In Holzbooten machen sie sich auf den Weg nach Europa, junge Männer und wenige Frauen aus Westafrika. In ihrem Land sehen sie für sich keine Zukunft mehr. Malick und Mamadou sind zwei Brüder aus Kayar, einer kleinen Fischerstadt etwa eine Stunde nördlich von Senegals Hauptstadt Dakar. Sie sind hier am Meer zwischen den Dünen zusammen aufgewachsen.
Malick arbeitet in der Tourismusbranche. Einen Kopf kleiner ist er mit 29 Jahren der ältere Bruder. Mamadou ist 22 Jahre alt, er ist Fischer wie sein Vater und Wrestling-Champion. Ringen ist eine der beliebtesten Sportarten im Senegal. An diesem Abend sitzen wir gemeinsam im Innenhof und trinken den traditionellen grünen Tee, wie die beiden es oft machen, seit Mamadou aus Spanien zurück ist. Was hat sie zu ihrer jeweiligen Entscheidung bewegt: bleiben oder gehen?
Malick Wade
Ich habe mich entschieden, nicht mit dem Boot zu fahren. Ich habe oft mit meinem Bruder, meinem Vater und Freunden darüber diskutiert. Viele meiner Freunde sind nach Europa gegangen. Sie haben oft gesagt: „Hey, Malick, komm mit!“ Aber ich bin überzeugt, dass die heimliche Migration nicht der beste Weg ist. Meiner Meinung nach ist es anders, als die Menschen hier denken. Für einige ist Europa die einzige Tür, alles auf der Welt zu bekommen. Aber ich habe gesehen, dass ich auch hier etwas tun kann. Sicher habe ich nicht alle Möglichkeiten, aber ich kann hier meine Projekte versuchen und verliere dabei nicht meine Zeit in Europa, um dort Sachen zu machen, an die ich nicht glaube.
Meine beiden Brüder sind gefahren, unterstützt von meinem Vater. Mein Bruder Mamadou hat mich eines Tages angerufen und mir gesagt: „Malick, ich habe jetzt alles vorbereitet, um nach Spanien zu fahren.“ Ich war echt überrascht und gar nicht fähig, wirklich wichtige Dinge zu sagen. Das war eine schlimme Situation für mich. Also habe ich ihm nur gesagt: „Hör zu, ich arbeite gerade, aber ich tue alles, um so schnell wie möglich nach Kayar zu kommen. Ich muss dich sehen, bevor du gehst. Ich glaube nicht, dass das deine einzige Chance ist.“
Als ich nach Kayar kam, habe ich ihn zum Glück noch erwischt. Ich habe ihn gefragt: „Mamadou, warum willst du gehen?“ Ich wusste zwar die Antwort, aber ich wollte es von ihm hören. Er sollte es mir direkt ins Gesicht sagen. Er dachte wie alle anderen, er kann mehr erreichen, wenn er nach Europa geht.
Dann habe ich ihn gefragt, ob er sich bewusst ist, dass diese Reise gefährlich ist und bedeuten kann, dass er stirbt. Es ist ja nicht so, dass wir hier nicht wissen, dass viele Menschen auf dieser Reise sterben. Also wollte ich wissen: „Denkst du, dass ist das Einzige, was du tun kannst? Und er hat mir geantwortet: „Malick, ich habe mich entschieden. Seit zehn Jahren bin ich Fischer und das Geld reicht für gar nichts. Ich will mein Leben ändern.“ Ich hatte keine Chance, er wäre so oder so gefahren, also habe ich ihm lieber mein o.k. gegeben. Beim ersten Mal musste sein Boot umkehren, das Geld war natürlich futsch. Aber er hat es noch einmal probiert. Kurz danach ist auch mein anderer Bruder gefahren.
Weißt du, ich kann ihnen nicht sagen, geht nicht! Wenn du das immer wiederholst, dann kommt der Moment, da sehen sie in dir einen Feind, der sie von ihrem Glück abhalten will. Also habe ich sie beide gehen lassen und mir gedacht, sie sollen ihre eigenen Erfahrungen machen. Sie werden merken, dass das reale Europa nicht ihren Träumen entspricht. Sie glauben mir einfach nicht, auch wenn ich ihnen von meinem Freund erzähle, der schon in Spanien ist und sagt, du wirst hier nichts, wenn du keine Papiere hast.
Und selbst die, die mir glauben, wollen es selber ausprobieren. Aus Kayar haben sich schon 3.000 der Jungen aufgemacht. Einige sind noch dort, die meisten sind wieder zurück. Ich habe auf die Erzählungen derer gehofft, die zurückkommen. Aber wenn du länger in Europa warst, begegnet dir überall Respekt. Alle denken, du hast jetzt echt viel Geld. Und wirklich, diejenigen in Kayar mit den schönsten Häusern oder einem Auto, die waren in Europa. Aber wissen wir, was sie in Europa dafür tun mussten?
Also sage ich den anderen immer wieder: „Bleibt hier, versucht es hier, verlangt von der Regierung, euch zu helfen.“ So habe ich es immer getan. Schon als kleiner Junge, so mit 14 Jahren, habe ich eine Initiative gestartet, um die Broschüren der NGOs zur Aufklärung über Aids und Malaria in unsere Sprache Wolof zu übersetzen. Die waren nämlich nur in Französisch und das können die meisten hier kaum. Jetzt arbeite ich in der Tourismusbranche, zeige Urlaubern den Hafen von Kayar. Ich musste mir das Wissen hierfür selber erarbeiten. Mein Vater hält nicht viel von Schule und so hat er mich nach wenigen Jahren wieder herausgenommen. Aber ich wollte unbedingt weiterlernen. Da war die Tourismusbranche gut. Ich habe versucht, Menschen zu finden, die mir zum Beispiel Wörterbücher schicken. Damit habe ich dann Sprachen gelernt, Spanisch und Englisch. Jetzt wollen alle, dass ich ihnen Spanisch beibringe, aber das will ich nicht. Ich will die Probleme hier lösen.
Mamadou Wade
Ich habe zweimal versucht, mit dem Boot nach Spanien zu kommen. Meine erste Reise war sehr schwer und gefährlich. Die See war sehr stürmisch und wir hatten viele Probleme mit den Wellen. Wir mussten vor der Küste Marokkos aufgeben. Es war nur ein kleines Boot und das war mit 99 Menschen überfüllt. Das Boot ist einige Male kaputt gegangen und wir mussten es selbst reparieren, während die Wellen hoch schlugen. Diese erste Reise war das Gefährlichste, was ich bisher in meinem Leben erlebt habe.
Weißt du, ich habe noch eine Chance bekommen, aber mein Leben hing an einem seidenen Faden und entschied sich in wenigen Minuten. Es gab Momente, da haben wir wirklich den Verstand verloren. Viele von uns haben geweint und wir dachten alle, wir werden den Tag nicht überleben. Manchmal treffen wir uns heute und wenn wir reden, weinen wir wieder. Wir fühlen uns wie lebendige Tote. Noch heute haben wir Angst, überhaupt darüber nachzudenken.
Dann habe ich es wieder versucht. Die ersten Tage waren einfach, die See war ruhig und alles war normal. Insgesamt haben wir acht Tage gebraucht. Die letzten zwei Tage waren noch schlimmer als auf unserer ersten Reise. Plötzlich änderte sich die See, die Wellen schlugen sehr, sehr hoch. Einige haben den Kapitän angefleht umzukehren. Aber andere sagten: „Nein, es sind nur noch 1.400 Kilometer. Wir können nicht umkehren, eher sterben wir, denn wir müssen nach Spanien.“ Also sind wir nicht umkehrt.
Wir hatten nichts mehr zu essen und kein Wasser mehr. Viele Leute sind krank geworden. Ich wollte auch umkehren, aber der Kapitän hat gesagt, das Benzin reicht nicht für die Rückkehr und auch nicht bis zur marokkanischen Küste. Wenn wir jetzt umkehren, sind wir verloren, auf der offenen See wird uns niemand finden. Also war unsere einzige Chance, weiterzufahren. Alle lagen nur noch herum und taten gar nichts mehr außer nach den Lichtern der Kanarischen Inseln Ausschau zu halten. Mein einziger Gedanke war, wir werden alle sterben. Aber nach den zwei Tagen haben wir Lichter gesehen und hatten wieder Hoffnung – wir waren gerettet. Es ist zwar niemand gestorben, aber viele waren sehr schwer krank, so dass wir dachten, sie sterben, aber wir wussten nicht, wie wir ihnen helfen könnten. An Land sind sie dann ins Krankenhaus gekommen. Sie konnten nicht laufen, die Helfer haben sie aus dem Boot geholt. Für sie sind wir in allerletzter Minute angekommen.
Als wir ankamen, hat das Rote Kreuz uns geholfen. Sie gaben uns Wasser, etwas zu essen, Kleidung und versorgten uns medizinisch. Nachdem wir uns einige Tage erholt hatten, wurden wir zur Polizeistation gebracht. Nach drei Tagen kamen wir vor Gericht. Danach waren wir 14 Tage auf Teneriffa im Gefängnis, dann kamen wir für 25 Tage nach Fuerteventura. Von dort wurden wir abgeschoben.
Mein Bruder will immer wissen, wie ich noch mal in dieses Boot steigen konnte. Es war schrecklich, aber ich konnte nicht weiter im Senegal leben, ohne Arbeit. Ich fahre nach Spanien oder ich sterbe auf dem Meer, das war für mich dasselbe.
Jetzt bin ich wieder hier und schlage mich mit Gelegenheitsjobs durch. Als wir zurück waren, hat die Regierung uns am Flughafen in St. Luis etwas Geld in die Hand gedrückt, damit wir in unsere Städte zurückkehren konnten. Aber sie haben uns versprochen, uns Visa und Arbeitsverträge zu geben, weil Spanien doch Arbeitskräfte braucht. Doch nun heißt es plötzlich, jede Person, die bereits versucht hat, mit dem Boot nach Spanien zu kommen, bekommt kein Visum. Das hat mich sehr enttäuscht. Also muss ich vorerst hier bleiben und wieder als Fischer arbeiten. Aber die Regierung hat uns Fischer schon lange im Stich gelassen. Vor unserer Küste schwimmen die großen Schiffe aus Europa und fangen alles weg. Die haben die Unterstützung der Regierung, nicht wir.