Politisches Engagement ist für deutsche Künstler längst ein Fremdwort, für Pasolini war es selbstverständlich. Zum 30. Todestag Erinnerungen an einen leidenschaftlichen Provokateur
Heute vor 30 Jahren wurde Pier Paolo Pasolini ermordet. Wer dahinter steht, ist immer noch fraglich. Der damals verurteilte Täter hat erst vor wenigen Monaten sein Schuldeingeständnis öffentlich widerrufen, seine Aussagen legen einen politisch motivierten Mord nahe. Tatsächlich stand Italien Anfang der 70er Jahre am Rande eines Staatsstreichs und der Schriftsteller und Filmemacher griff seine mächtigen Gegner unverblümt an. Es war sein Selbstverständnis als Intellektueller, sich „mit dem ganzen Körper, mit allen Sinnen“ in den Kampf zu werfen.
Von heute aus betrachtet muten diese öffentlichen Interventionen anachronistisch an. Unter deutschen Künstlern und Intellektuellen gilt ja bereits die Unterzeichnung eines Wahlaufrufs als beherzte Tat. Dabei gäbe es genug zu tun.
Im Spätsommer 2005 machte eine Email die Runde unter Deutschlands Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Mit den Worten „Kollegen, das ist blamabel“ versuchten die Absender Eva Menasse und Michael Kumpfmüller ihrer Zunft ein schlechtes politisches Gewissen zu machen. Es ging allerdings nur um Unterschriften für einen SPD-Wahlaufruf, so dass der skandalisierende Ton etwas überdreht klingt:
Die Anzahl derer, die zu unterschreiben und also an einer öffentlichen politischen Debatte teilzunehmen bereit sind, ist, vor allem unter den jüngeren Kollegen, so verschwindend, daß es beinah eine Schande ist.
Natürlich ist es keine Teilnahme „an einer öffentlichen politischen Debatte“, wenn man eine Unterschrift leistet, doch für den 1961 geborenen Kumpfmüller scheint die Initiatorenrolle ein aufregendes Erweckungserlebnis gewesen zu sein. In der FAZ erläuterte er, wer die Verantwortung für seine bisherige unpolitische Einstellung trägt:
Ich gehöre zu einer Generation, die politisch gelähmt ist. Wir sind von den Achtundsechzigern erzogen und mit dem Engagement-Befehl in die Welt geschickt worden: Seid für die Schwachen, für die Opfer, gegen den Faschismus und so weiter. Viele haben da schwere Allergien bekommen: Das war ja eine Hybris des Gutmeinens.
Diese Argumentation wird ja schon seit Jahren erfolgreich eingesetzt, wenn es darum geht, die eigene Passivität zu erklären. Dabei gab es in den letzten Jahren durchaus eine Öffnung der Intellektuellen zur Politik: Die Einladungen zu rotweinseligen Abenden in Schröders Kanzleramt hat die künstlerische Elite gerne angenommen. Der teilnehmende Lyriker Durs Grünbein hat es für sich so auf den Punkt gebracht:
Die Stellung eines Künstlers zu Gerhard Schröder ist die einer Diva zu einer anderen Diva.
Hier liegt wohl ein Schlüssel zur Erklärung: Diven leben in einer außerordentlich selbstbezogenen Welt. Außerhalb dieser selbstgebauten Mauern sind die politischen und sozialen Probleme jedoch nicht kleiner geworden. Das hat vor wenigen Wochen der Ansturm der afrikanischen Migranten auf die EU-Exklaven Ceuta und Meilla gezeigt. Die globalen Widersprüche zwischen Arm und Reich nehmen zu, täglich sterben 30.000 Menschen an Armut, weltweit stehen militärische und wirtschaftliche Interventionen auf der Agenda.
Im Gegensatz zu den heutigen Intellektuellen hatte Pasolini durch seine Herkunft und seine Lebensstationen andere Erfahrungen gemacht. Das brachte ihn in seinen Kunstwerken und seinen öffentlichen Äußerungen zu einer klaren Haltung. Schon früh machte er die schmerzliche Erfahrung, als ausgeschlossener Außenseiter behandelt zu werden und bekennt in einem Interview 1970:
Wenn ich Ihnen sage, dass ich die Empfindung eines verwundeten Tieres habe, das sich hinter der Herde herschleppt, so sage ich die Wahrheit.
Als offen bekennender Homosexueller wurde er bereits als 27-Jähriger in seiner Heimatstadt Casarsa wegen „Unzucht mit Minderjährigen“ angeklagt. Die Anzeige war politisch motiviert. Pasolini attackierte damals als junger Parteisekretär der KPI in Casarsa die Kirche und die mächtige Democrazia Christiana mit klugen Wandzeitungen. Er sollte zum Schweigen gebracht werden und dieses eine Mal gelang es seinen Gegnern. Obwohl Pasolini den Prozess in zweiter Instanz gewann und vom Vorwurf freigesprochen wurde, hatte er sein öffentliches Ansehen verloren. Auch seine Anstellung als Lehrer wurde gekündigt und der junge Autor war gezwungen die Stadt zu verlassen.
Pasolini zog im Dezember 1959 nach Rom und lebte mehrere Jahre mit enormen finanziellen Problemen und unter schwierigen Lebensverhältnissen in einem Armenviertel. Dort lernte er das Subproletariat kennen, gewalttätige junge Männer, die von Gelegenheitsjobs und Kriminalität leben. Sie leben in Slums am Rande der Gesellschaft ohne Aussicht auf ein besseres Leben. Ihnen verleiht Pasolini in seinem Roman „Vita violenta“ eine literarische Stimme und hofft auf ihre ungebrochene Kraft, sich ihren Teil vom Glück und Wohlstand zu nehmen, wenn nötig mit Gewalt. Die Bilder von den brennenden Pariser Vorstädten, die gerade durch die Medien gehen, erinnern an dieses Potenzial.
Pasolini war ein leidenschaftlicher und radikaler Kritiker der politischen und sozialen Zustände. Er provozierte, warf sich in die Debatten und griff die Mächtigen in zahllosen Texten und Interviews direkt an. Sein Einfluss war so groß, dass sich selbst Ministerpräsident Andreotti genötigt sah, ihm öffentlich zu antworten.
Pasolini gab noch kurz vor seinem Tod dessen Partei Democrazia Christiana die Schuld an den zahlreichen Bombenanschlägen und Attentaten, die Italien seit Ende der 60er Jahre erschütterten. Insgesamt wurden dabei mehr als 230 Menschen getötet, mehr als 500 Menschen verletzt. Die Täter wurden nie gefasst und heute ist klar: Der Auftrag kam von ranghohe Politikern, Militärs und Geheimdienstmitarbeitern, die das Land damit destabilisieren wollten. Knapp ein Jahr vor seinem Tod erschien auf der Titelseite der einflussreichen Tageszeitung „Corriere della sera“ ein explosiver Text Pasolinis mit dem Titel: „Der Roman von den Massakern“. Er beginnt mit den Worten: „Ich weiß die Namen der Verantwortlichen für die Bomben (…)“ und legt nahe, dass es höchste Kreise in Politik und Staat sind. An anderer Stelle macht er deutlich, warum die politische Intervention für ihn selbstverständlich zum Berufsbild des Intellektuellen gehört:
Ich weiß, weil ich ein Intellektueller bin, ein Schriftsteller, der versucht, all das zu verfolgen, was geschieht, all das kennenzulernen, was darüber geschrieben wird, sich all das vorzustellen, was man nicht weiß oder verschwiegen wird; jemand, der auch fernliegende Fakten miteinander verknüpft, der die Einzelteile und Bruchstücke eines zusammenhängenden politischen Gesamtbildes miteinander verbindet, der dort Logik einsetzt, wo Willkür, Wahnsinn und Geheimnis herrschen. (…) Wer also könnte die Namen nennen? Offensichtlich jemand, der erstens den notwendigen Mut dazu hat, zweitens in seinem praktischen Handeln nicht durch Machenschafen mit den Herrschenden kompromittiert ist und außerdem – schon von seiner Definition her – nichts zu verlieren hat: also ein Intellektueller.
(Pier Paolo Pasolini: „Der Roman von den Massakern“)
Diese radikale Haltung brachte Pasolini und einige andere Künstler tatsächlich in höchste persönliche Gefahr. Und der Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen, dass höchste Kreise Pasolinis Ermordung in Auftrag gegeben haben könnten. Pasolini hat sein Engagement vielleicht mit dem Leben bezahlt, aber auch zuvor war er das Ziel unzähliger Schmähungen, Beleidigungen und Anklagen. Er wurde mit zahlreichen Anzeigen überzogen und über 30 Mal verklagt, wegen „Blasphemie“, „Pornografie“, „Diffamierung“, „Hausfriedensbruch“ oder generell wegen „Obszönität, Schamlosigkeit und jedem anderen Delikt“. Acht Jahre dauerte ein Prozess, nachdem ihn ein Tankwart wegen eines angeblichen Raubüberfalls angezeigt hatte. Er endete, wie alle anderen auch, in zweiter oder höherer Instanz mit Freispruch.
Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichtsgutachter arbeiteten massiv an Pasolinis Stigmatisierung. Die öffentliche Verleumdung und Demütigung ging auch in den Gerichtssälen weiter. Genüsslich zitierte die Presse damals aus einem psychiatrischen Gutachten: „Pasolini ist ein triebhafter Psychopath, ein sexuell Anormaler, ein Homophiler im absoluten Sinn des Wortes.“ Der Schriftsteller und Filmemacher hat für sein Engagement einen hohen Preis gezahlt. Maria-Antonetta Macciocchi schrieb kurz nach Pasolinis Tod:
Pasolini ist von einer Welt ermordet worden, die sich entschieden gegen ihn sträubte, die seine Übertretung sexueller, politischer und künstlerischer Tabus einfach nicht ertrug, diese nahtlose, öffentlich zur Schau getragene Einheit von Engagement und Leben.
(Maria-Antonetta Macciocchi: Pasolini: Die Ermordung eines Dissidenten)
Wenige Stunden vor seinem Tod verfasste Pasolini seinen letzten Text, eine Rede, die er am 04.11.1975 vor dem Kongress der Radikalen Partei halten wollte. Mit dieser vielgestaltigen politischen Kraft, die Witz und Phantasie als Werkzeuge nutzte, stand Pasolini schon seit vielen Jahren in Kontakt. Die Radikale Partei hatte damals den autoritären Parteigedanken aufgeweicht und wurde von autonom agierenden Bürgerinitiativen sowie lokalen Gruppen getragen. Er gab ihnen ein Vermächtnis mit auf den Weg, das auch heute Intellektuellen helfen könnte, den Weg aus ihrem Elfenbeinturm zu finden:
Vergesst unverzüglich die großen Siege und fahrt fort, unerschütterlich, hartnäckig, ewig in Opposition, zu fordern: fahrt fort, euch mit dem Andersartigen zu identifizieren, Skandal zu machen, zu lästern!