Zwischen Stubbendorf und Finkenthal nicht weit von Teterow, in der Nähe des Kummerower Sees. So könnte sich die Ortsbeschreibung des Hof Ulenkrug anhören. Doch sie würde einem Suchenden wohl nicht viel helfen – zu abgelegen ist die Gegend. Leicht hügelig, von Wäldern durchsetzt und landwirtschaftlich geprägt ist es hier, auch wenn in den kleinen Orten bereits seit längerem Discounter wie Lidl und Aldi der bäuerlichen Produktion Konkurrenz machen.
Groß und hager, im roten Wollpullover steht Jürgen Holzapfel im Essraum neben dem langen Eichentisch. An den Wänden hängen bunte selbst gemachte Filzteppiche. Er greift an einen der Heizkörper und fühlt die Wärme. Beruhigt setzt sich auf einen Stuhl am Fenster. Auf den zwei Sofas gegenüber sitzen ein halbes Duzend junge Leute in Wollpullovern und Cordhosen: Gäste, die genau genommen keine sind. Sie kommen aus „Mas de Granier“ in der französischen Crau und sind Teil der „Europäischen Kooperative Longo Maï“, zu der auch der Hof Ulenkrug gehört. Rund einen Monat werden sie hier verbringen.
Jürgen Holzapfel hat die Beine übereinander gelegt und berichtet in fließendem Französisch über die aktuelle Kampagne zur Rettung alter Weizensorten aus der Genbank in Gatersleben bei Magdeburg, einer der größten Sammlungen alter Weizensorten weltweit. Da die staatliche Bank sich in den letzten Jahren vermehrt an Freilandversuchen mit genmanipuliertem Weizen beteilige, während gleichzeitig die alten Sorten ausgesät würden, bestehe die akute Gefahr der Verunreinigung. Kleine Tütchen mit circa 30 Samenkörnern versendet die Bank auf Antrag. Rund 450 Sorten hätten sie nun bereits „gerettet“ und in der Getreidekammer zwischen gelagert.
Jürgen Holzapfel liebt das Land, die Tiere, das Getreide. In der Getreidekammer greift er tief in die Holzkisten, wo Weizen, Roggen, Dinkel und Hafer gelagert sind. Er holt eine Hand voll heraus und lässt sie durch die Finger rieseln, es riecht süßlich. Von der Decke hängen Büschel mit alten Weizensorten, darunter das Urgetreide Einkorn, aus dem alle modernen Sorten gezüchtet wurden. Dann zeigt er stolz den Pappkarton mit kleinen Plastik-Tütchen: Die letzte Sendung Weizensaat aus Gatersleben. „20 Körner behalten wir und den Rest geben wir an Hobbygärtner und Ökobauern, damit sie die Sorten dezentral erhalten.“
Schon 1973 war Jürgen Holzapfel mit von der Partie, als die „Europäische Kooperative Longo Maï“ gegründet wurde. Ein Konzept, dass es, weil jedes Land seine eigenen Gesetze hat, eigentlich nicht geben darf. Mit allerlei juristischen Konstruktionen hangeln sich die GenossInnen seither um diese Unmöglichkeit herum. Die Eigentumsfrage haben sie mittlerweile durch eine Stiftung gelöst, welcher der gesamte Landbesitz übertragen wurde. Privatbesitz an Land und Gebäuden ist bei den „Longos“ tabu, keiner und keine erwirbt einen materiellen Anteil am Projekt. Dafür können sie hier Landwirtschaft, schreinern, käsen oder melken lernen.
Anfang der Siebziger hatte sich Jürgen Holzapfel „eher zufällig“, wie er sagt, einer Schweizer Lehrlingsbewegung angeschlossen und die erste Longo Mai Pioniersiedlung in der Haute Provence mitbegründet. „Wir wollten uns nicht mit der Arbeitslosigkeit in den Städten abfinden. Daher sind wir in weitgehend entvölkerte Gebiete gezogen, um diese Gegenden wiederzubeleben“. Frankreich jedoch verwies die jungen – hauptsächlich deutschsprachigen – Utopisten bald des Landes. Begründung: Terrorverdacht. Doch die Gruppe gab nicht auf. „Im Gegensatz zu der Hippie-Bewegung sind wir nicht aus romantischen Erwägungen aufs Land gezogen, sondern um uns einen Freiraum und die Unabhängigkeit für gesellschaftliche Arbeit und politisches Engagement zu schaffen“, erzählt Herma Ebinger die seit 14 Jahren auf dem Ulenkrug lebt und arbeitet.
Um halb acht morgens glitzert der Raureif auf den Weiden rings um den Hof. Jürgen Holzapfel zieht sich Gummistiefel und eine dicke braune Jacke an. Er stampft zum Kuhstall. Zeit, Kühe zu melken. Edelstahleimer, eine Salbe für das Euter und die entsprechende Handgriffe, mehr braucht er nicht, um frische Milch für das Frühstück zu bekommen. Es scheint wie vor hundert Jahren. Wie das pflügen des Ackers mit dem Pferd, das spürbar besser für den Boden sei. „Der Boden bleibt lockerer“, erklärt er.
Im Wohnhaus sitzt Herma Ebinger schon früh im Computerraum und tippt auf eine Tastatur ein. Es brummt und surrt leise, drei moderne Computer stehen neben mit Akten und Ordnern voll gepackten Regalen. „Verdankungen schreiben“ nennt sie ihre Tätigkeit. Leute, die das Projekt unterstützen, erhalten als Dank für ihre Spende eine Postkarte mit Weizenkorn im Wind und einem persönlichen Gruß. Herma Ebinger ist 57 und hat in der DDR unter anderem als Journalistin gearbeitet. Die weißen Haare wippen beim Schreiben, ihre freundlichen Augen werden durch eine große Brille betont. Nie hielt sie es lange an einem Ort aus: „Drei Jahre hier, drei Jahre dort. Nach einer gewissen Zeit bin ich einfach immer irgendwo angeeckt. Dann war es meist Zeit, etwas anderes zu tun“, beschreibt sie ihr früheres Leben. Doch auf dem Hof Ulenkrug ist sie sesshaft geworden. „So zu leben ist für mich eine Form, um nicht auf Knien vor dem System zu rutschen“, sagt sie. In dem Büro schreibt sie Artikel für den „Archipel“, die Zeitung des Europäischen BürgerInnenforums und koordiniert Kampagnen, wie den Landwirtschaftstag gegen den G8-Gipfel letztes Jahr oder die Rettung der alten Sorten aus Gatersleben.
9 Frauen, 7 Männer und fünf Kinder leben auf dem Ulenkrug. Neben den Kühen gibt es noch 40 Schafe, zwei Arbeitspferde und acht Schweine. Verkauft werden die Produkte auf Märkten in Rostock und Greifswald und auf Nachfrage auch in Berlin. Doch der Verkauf der Produkte ist nicht entscheidend. Das Wichtigste sei die Selbstversorgung, erklärt Herma, nur so könnten sie unabhängig von Lohnarbeit leben. Was fehlt bekommen sie aus anderen Kooperativen. Rund 30.000 Liter Wein reifen jährlich in Cabrery in Südfrankreich, Käse wird in größeren Mengen in Nischne Selischtsche in der Ukraine hergestellt, Stoffe produziert eine kleine Spinnerei in Chantemerle.
Auch die BewohnerInnen vom Ulenkrug besuchen regelmäßig die anderen Höfe. Die Kooperative setzt sich aus Höfen in Frankreich, Deutschland, Österreich, der Schweiz, Costa Rica und neuerdings einem Projekt in der Ukraine zusammen. Ein Mal im Jahr Treffen sich fast alle der insgesamt rund 200 Leute zur großen Jahresversammlung. Dann wird drei Tage lang diskutiert, gegessen und gefeiert.
Alle Entscheidungen in der Kooperative und auf den Höfen, werden im Konsens getroffen, sagt Herma. „Es wird gequatscht, palavert und diskutiert. Wir reden einfach so lange, bis es eine Entscheidung gibt. Abstimmungen gibt es keine.“ Eine zeitraubendes Konzept, aber es funktioniert, versichern Herma und Jürgen. Dennoch kommt es auch mal zu Reibereien, zum Beispiel, wenn es um größere Investitionen geht. Zuletzt, als die Leute vom Hof Stopar in Österreich eine teure Hackschnitzelanlage installieren wollten und die Mehrzahl der BewohnerInnen der anderen Höfe skeptisch blieb. „Wahrscheinlich haben sie die Anlage dann trotzdem installiert“, vermutet Herma. Es gebe einfach kein festgelegtes Konzept, wie Longo-Maï funktioniert. Die Basis sei viel Kommunikation und Toleranz, erklärt Jürgen, „es ist eine Frage der Aushandlung“, ergänzt Herma.
Es wird bereits dunkel, als der Schulbus am Ulenkrug vorbeifährt. Vier Kinder vom Hof besuchen die Schule in Demmin. „Früher wollten wir die Familienstrukturen auflösen, damit sich alle Erwachsenen für die Kinder verantwortlich fühlen, aber das ist eine Aufgabe über Generationen“, sagt Herma. So kümmert sich eben Jürgen um die Hausaufgaben seines Sohns. Seit diesem Jahr hat er Französisch in der Schule. Obwohl er mündlich gut ist, fällt ihm das Schreiben schwer. Jürgen sitzt ihm gegenüber am Esstisch und erklärt die Akzente beim französischen où (wo) und ou (oder) mittels einer Eselsbrücke. „Und hast du es dir gemerkt“, fragt er. Sie wiederholen zusammen: „Auf der Oder schwimmt kein Graf“.