Die Ethik beschäftigt sich als philosophisches Fach mit moralischen Aspekten menschlichen Handelns. Fragt sich nur „wozu?“, wenn all unser Tun doch durch unsere Gene bestimmt wird – wie manche Biologen/innen behaupten.
Für eine Frau leide ich an Geschmacksverirrung. Ich trage überwiegend blaue, grüne und schwarze Kleidungsstücke. Neurologinnen der Universität Newcastle fanden aber vor drei Jahren heraus, dass Frauen rote Farbtöne bevorzugen. Was dann wahrscheinlich auch die Vorliebe kleiner Mädchen für rosa Kleidung und rosa Spielzeug einschließen würde. Es wundert weniger das Ergebnis der Studie, als dass sich die Wissenschaftlerinnen überhaupt mit der Lieblingsfarbe von Frauen und Mädchen beschäftigten. Schließlich dürfte das Ergebnis außer Spielzeugherstellern kaum jemanden interessieren. Oder doch?
Verwunderlich auch die Erklärung der Farbvorliebe, die eine der beteiligten Wissenschaftlerinnen gab: Diese könnte auf die Zeiten zurückzuführen sein, als die Menschen Jäger und Sammler waren und die Frauen auf der Suche nach reifen, roten Beeren und Früchten waren. Ein Steinzeitinstinkt, der noch heute das Verhalten bestimmt? Hinweise auf Verhaltensrelikte aus der Zeit der Urmenschen geistern immer wieder durch die Wissenschaftsseiten der Zeitungen. Besonders oft müssen unsere frühen Vorfahren dafür herhalten, wenn es gilt, Verhaltensunterschiede zwischen den Geschlechtern zu erklären. Warum Männer oft aggressiver sind und sich Frauen besser einfühlen können. Warum Männer öfter fremdgehen und warum Frauen schlechter einparken können. Wenn diese Erklärungen auch keine Wertung enthalten, dass die traditionelle Rollenverteilung gut wäre, führen sie doch dazu, diese als quasi naturgegeben zu akzeptieren.
Verantwortlich für solche Erklärungsmuster – die in populärwissenschaftlichen Artikeln gerne vereinfacht werden – ist eine wissenschaftliche Disziplin, die sich Soziobiologie nennt und die seit gut 30 Jahren für heftige Diskussionen sorgt. Die Soziobiologie hat es sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur menschliche Individuen, sondern auch das Verhalten sozialer Gruppen zu einem Bestandteil der biologischen Wissenschaft zu machen. Und das bedeutet auch die Einordnung des Sozialverhaltens in die Evolutionstheorie.
Als Charles Darwin 1859 die „Entstehung der Arten“ veröffentlichte, sagte er darin wenig über die Natur des Menschen. Seine Evolutionstheorie war trotzdem revolutionär. Anders als in der Evolutionstheorie Lamarcks veränderten sich die Arten bei Darwin durch zufällige Mutationen, die an ihre Umgebung am besten angepassten Individuen einer Art überlebten. Darwin vermied es dabei stets, von einer biologischen Höherentwicklung zu sprechen. Pflanzen, Tiere und Menschen konnten nach Darwins Theorie nicht mehr als direkt von Gott geschaffen betrachtet werden. Wenn die Evolution zufällig verlief, gab es auch kein Ziel mehr, auf das sie sich hin entwickelten. Erst in Darwins 1871 erschienenem Werk „Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“ beschäftigte er sich näher mit der eigenen Art. Er vermutete, dass der Mensch sich in Afrika entwickelt habe und sich dessen Vernunft und moralisches Empfinden erst allmählich gebildet hatten. Viel mehr ist bei Darwin zum Thema Mensch nicht zu finden, mit dem „Sozialdarwinismus“ konnte der Naturforscher selbst nichts anfangen.
Im Nachgang auf die Aufklärung konnte Darwin problemlos die Frage nach der Natur des Menschen stellen. Die Philosophen der Aufklärung hatten gut 100 Jahre vor Darwin diese Frage mit der menschlichen Vernunft beantwortet, die den Menschen aus dem Tierreich heraushebe und dem Dasein einen Sinn gäbe. Ob die Menschen nun von Natur aus eher egoistisch oder altruistisch veranlagt seien, darüber herrschte Uneinigkeit. Dennoch war es für die Aufklärung in jedem Fall die Vernunft, die das gesellschaftliche Zusammenleben erst möglich machte. Gott war hingegen als Lenker der menschlichen Geschicke in den Hintergrund getreten.
Der amerikanische Biologe Edward O. Wilson machte sich 1975 daran, auch das gesellschaftliche Zusammenleben und die menschliche Ethik unter evolutionsbiologischen Gesichtspunkten zu analysieren. In „Sociobiology: The New Synthesis“ forderte er, die Sozial- und Geisteswissenschaften in die Biologie einzugliedern. Wilson geht davon aus, das Verhaltensweisen menschlicher Gruppen ebenfalls durch natürliche Selektion entstehen und genetisch festgelegt sind. Verhaltensänderungen wären nach dieser Theorie nur extrem langsam möglich. (Und dementsprechend wäre es kein Wunder, wenn Mädchen und Frauen noch heute auf rote Beeren geprägt wären.) Aus der Biologie wollte Wilson auch gesellschaftliche Normen ableiten, der Sinn jeglicher Moral wäre demnach darauf hinausgelaufen, das genetische Material der Menschen zu erhalten. Später relativierte Wilson diese Ideen und räumte dem freien Willen und der menschlichen Kultur eine größere Bedeutung ein. Fast zeitgleich mit Wilson schickte der Engländer Richard Dawkins „Das egoistische Gen“ ins wissenschaftliche Rennen. Bei Dawkins wurde die Evolution nunmehr nicht mehr vom „Kampf ums Dasein“ der Arten oder Individuen angetrieben, sondern vom Überlebenskampf der Gene. Mensch und Tier sind gleichsam von der Menge ihrer Gene gesteuerte „Maschinen“. Diese Gene verfolgten das Ziel, sich möglichst zahlreich zu reproduzieren. Warum das Genom den aufwändigen Weg aus der Ursuppe über den Menschen nehme, fragt hingegen der Kritiker der Soziobiologie Peter Koslowski. Doch entgegen solcher Zweifel bleibt das egoistische Gen bis heute präsent.
Jüngst las ich wieder, dass Männer eher zu Seitensprüngen neigen als Frauen, weil sie ja für einen großen Fortpflanzungserfolg auch ihre Gene möglichst breit streuen müssten. In die Kindererziehung zu investieren, lohne sich dagegen weniger, schließlich könnten Männer sich nie ganz sicher sein, ob der Nachwuchs auch wirklich von ihnen ist. Doch wer will schon derart von seinem biologischen Erbe gesteuert sein, selbst wenn es sich wunderbar als Entschuldigung benutzen lässt? Um dem menschlichen Dasein einen Sinn zu geben und um daraus eine Ethik abzuleiten, taugen die soziobiologischen Theorien wohl kaum. Selbst Dawkins schreibt, dass wir als biologische Art kaum mehr Sinn finden würden als der Rest der Lebewesen. So wird die Evolutionsbiologie wohl immer nur erklären können, wo wir herkommen, und nie, wo wir hingehen.