Als eines der wenigen Berliner Arbeitskollektive hat Hinkelstein-Druck bis heute überlebt. Aus der Hausbesetzer-Bewegung Anfang der 90er Jahre entstanden, hält der Betrieb an alten Prinzipien fest, mit Erfolg und Spaß bei der Arbeit.
Der Schöndruck ist fertig, alles okay. Cora geht in die Hocke, legt die einseitig bedruckten A2-Bögen stapelweise in den Einzug der Druckmaschine und stellt den Papierlauf ein. Alles bereit für den Widerdruck. Sie startet die Maschine für den zweiten Druckgang. Der Kompressor saugt den Papierbogen an, die Druckzylinder verursachen einen ersten dumpfen Schlag, der sofort durch den nächsten abgelöst wird. Ansaugen, bumm, ansaugen, bumm. Auf der anderen Seite der Maschine steht Sabine im Blaumann, kontrolliert die frisch gedruckten Seiten und regelt an den Zonenschrauben die Farbe nach.
Beinahe wortlos verrichten die beiden Offset-Druckerinnen die einzelnen Arbeitsschritte – sie sind ein eingespieltes Team. Seit 13 Jahren arbeiten sie zusammen in der Druckerei Hinkelstein. Erst in den engen Räumen einer alten Kapelle in der Schreinerstraße im Friedrichshainer Norden, seit 2006 im Hinterhof-Gebäude einer früheren Gummifabrik in Kreuzberg.
Sozialistische GmbH seit 1990
Hinkelstein-Druck ist nicht irgendein Betrieb, bei dem zufällig die Frauen an der Druckmaschine stehen, sondern ein selbstverwaltetes Arbeitskollektiv, das in diesem Jahr seinen 18. Geburtstag feiert. Sein gut gepflegtes Herzstück, die drei Tonnen schwere Druckmaschine »Roland Practica«, und alle anderen Produktionsmittel gehören denen, die damit arbeiten. Die Druckerinnen nennen ihren Betrieb »sozialistische GmbH«. Sabine schmunzelt, wenn sie an das Gründungsjahr 1990 denkt, als sie ins Kollektiv eingestiegen ist. »Das war damals ein Witz seiner Zeit, von einer sozialistischen Gesellschaft mit beschränkter Haftung zu sprechen.« Die kleine sozialistische Gesellschaft am Lausitzer Platz hat es bis ins Heute geschafft.
Alle im Kollektiv sind GesellschafterInnen der GmbH und wechseln sich mit der Geschäftsführung regelmäßig ab. Egal, ob sie sich mehr um die Buchhaltung, die Belichtung oder den Druck kümmern, alle erhalten denselben Lohn. Auch als die damals 30-jährige Sabine 1995 offiziell in die Lehre bei der ebenfalls 30-jährigen Cora ging – ein etwas atypisches Ausbildungsverhältnis in vielerlei Hinsicht.
Sabine hatte zwar noch keinen Gesellenbrief in der Tasche, konnte aber bereits hervorragend drucken. Ihr praktischer Ausbildungsweg hieß learning by doing. Als der Ausbildungsbeauftragte der Industrie- und Handelskammer (IHK) auf einen Besuch vorbei kam, um zu prüfen, ob Hinkelstein-Druck als Ausbildungsort überhaupt in Frage kommt, verabschiedete er sich erregt mit den Worten: »Sie werden hier niemals ausbilden!« Aus Sicht der beiden Druckerinnen war es ihm ein Dorn im Auge, dass ausschließlich Frauen an den Maschinen standen. Noch in den 1990ern galten Frauen als ungeeignet für den Beruf. Das schlagkräftige Argument eines Berufsschullehrers lautete zum Beispiel, Frauen würden die Druckplatten mit ihren langen Fingernägeln zerkratzen.
Gemeinsam wird im Konsens entschieden
Und dann ging es doch. Dank eines wohlwollenden Vertreters der IHK, der sich für sie einsetzte. Cora strahlt, wenn sie von ihrem gemeinsamen Triumph erzählt. »Sabine hat ihre Abschlussprüfung als beste Schülerin ihres Jahrgangs auf der ältesten Druckmaschine in ganz Brandenburg und Berlin abgelegt.«
Einen Zweifel daran, ohne Chef zu arbeiten, hat es für Cora und Sabine auch in den diskussionsfreudigen ersten Jahren nie gegeben. Ob ein Auftrag angenommen wird oder nicht, ob eine zweite Druckmaschine bereits in diesem Jahr gekauft werden kann und wann Tom, der Dritte im Kollektiv, seine Fortbildung macht – all das wird gemeinsam im Konsens entschieden. Das geht heute schnell über die Bühne. 20, höchstens 30 Minuten dauert das wöchentliche Plenum am Freitagnachmittag, bevor
alle ins Wochenende gehen. Das war mal anders.
Anfangs war die Gruppe unerfahrener und größer. Sieben Meinungen mussten unter einen Hut gebracht werden, das dauerte dann zwei, drei Stunden. »Wir sind heute verbindlicher, professioneller und nicht mehr so chaotisch«, sagt Sabine.
In den ersten Jahren wurde die Druckmaschine oft erst am Nachmittag angeschmissen. Heute hört man das Rotieren der Maschine schon morgens um neun und die 30-Stunden-Woche gilt als Richtwert. Das lässt noch immer Platz für Freiheiten, die im Normalarbeitsverhältnis fehlen. Wird Sabines Kind krank, bleibt sie eben zu Hause, ohne dass ihr das vom Lohn abgezogen würde. Cora kann, soweit es die Auftragslage zulässt, spontan ins verlängerte Wochenende fahren. Und wenn Sabines Mitarbeit bei einer Filmproduktion der autonomen Berliner Videogruppe AK Kraak gefragt ist, setzt sie für eine Woche aus. Alles eine Frage guter Planung und Koordination. Und natürlich des Geldes. Das spielt eine nicht unwesentliche Rolle, schließlich müssen am Ende des Monats drei Gehälter fließen.
»Als Druckerin war man wer«
Cora stapft in ihrem grünen Arbeitsanzug zum Nebenraum, schließt die Tür hinter sich und macht einen Kaffee. Ihr Lohn ist im Lauf der Zeit zwar gestiegen, liegt aber immer noch deutlich unter den branchenüblichen Gehältern. Coras Ziel: Dass sie sich eines Tages 1000 Euro im Monat auszahlen können. Doch für die selbstbestimmte Arbeit nimmt sie den geringen Verdienst gern in Kauf. »Ich will nicht im Dreischicht-Betrieb an der Maschine stehen. So zu arbeiten wie wir es tun, das ist sehr viel wert.« Außerdem ist Cora ein Gewohnheitstier. Schon ihre Ausbildung zur Offset-Druckerin vor 20 Jahren machte sie in einem Kollektiv. »Für die Arbeit im Normalbetrieb bin ich inzwischen versaut«, grinst sie. »Wir können gar nicht mehr anders arbeiten«, erklärt Sabine, »das hat auch mit unserer Lebensgeschichte zu tun.« Als Sabine bei Hinkelstein anfing, da war sie Hausbesetzerin und in der Antifa, wie fast alle im Kollektiv. In einem der einst besetzten Häuser in Friedrichshain lebt sie bis heute, als Genossenschafterin. »Drucken hatte sehr viel mit dem eigenen Alltag zu tun, wir waren ja alle politisch sehr aktiv«, sagt sie über die Berliner Besetzer-Zeiten Anfang der 90er Jahre, als ihr die Szene mit Hochachtung begegnete. »Als Druckerin war man wer, schließlich haben wir für die Bewegung produziert.« Ein politisches Projekt ist Hinkelstein geblieben, auch was die Kunden angeht. Die Wand hängt voll mit selbst gedruckten Polit-Plakaten. Noch immer lassen viele kleine Initiativen bei Hinkelstein drucken. Reicht das Geld nicht, gibt’s Soli-Preise.
Doch solche Aufträge allein machen den Kohl nicht fett, zumal die politische Kundschaft zurückgegangen ist. Darum druckt das Kollektiv mittlerweile auch gerne Geschäftspapiere, Bücher und Broschüren für andere Auftraggeber.
Eine gute Mischung zwischen Veränderung und Festhalten an Bewährtem ist das, was dem Kreuzberger Zwergbetrieb sein ökonomisches Überleben sichert. Die Kunden halten der Druckerei die Treue, der Gewinn ist nicht üppig, aber ausreichend. Die Arbeitsstruktur: verbindlich, sozial und flexibel genug, um sie an die sich ändernden Bedürfnisse der MitarbeiterInnen einerseits und die wirtschaftlichen Notwendigkeiten andererseits anzupassen. Soweit es geht, druckt Hinkelstein ökologisch – auf Papier, das aus Bäumen hergestellt wird, die in nachhaltig bewirtschafteten Wäldern wachsen. Die Druckwalzen werden mit lösungsmittelfreiem Rapsöl gereinigt.
Ein Auge auf die Fingernägel?
Im Zuge der Digitalisierung hat Toms Job als Reprograph übrigens ausgedient. Was Sabine und Cora seit Jahren erfolgreich praktizieren, wird er nach seinem Urlaub nachholen: Als Ältester im Kollektiv lernt er das Drucken. Entgegen dem Zeitgeist, der nach immer ausgefeilteren und komplexeren Spezialisierungen auf dem Arbeitsmarkt verlangt, haben die Drei nämlichn beschlossen: Künftig sollen alle im Kollektiv sämtliche Arbeiten in der Druckerei erledigen können. Rotation. Mal schauen, ob seine Ausbilderinnen ein Auge auf die Länge seiner Fingernägel werfen.
Der Artikel erschien am 30.1.2008 im Rahmen der Serie „Kollektivbetriebe“ in der Tageszeitung Neues Deutschland.