Wer kennt sie nicht, die goldfarbenen Pflastersteine auf dem Bürgersteig, die Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig? Sie erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus. Auch in der Berliner Hobrecht- und in der Sanderstraße werden sie in diesem Jahr verlegt, dank einer Kiez-Initiative, die das Projekt voran treibt.
An einem eiskalten Wintermorgen im Januar macht sich Alenka Tschischka aus der Sanderstraße auf den Weg nach Potsdam. Knapp zwei Stunden später sitzt sie im Landesarchiv Brandenburg und studiert Akten aus den 1940er Jahren, die von den Nazis als „Vermögenserklärungen“ bezeichnet wurden. Alenka nennt sie Diebstahl-Akten.
Beim Durchblättern fällt ihr Blick auf eine Liste, die Selma Badasch, geb. Moses, wohnhaft Sanderstraße 24, vor fast 67 Jahren ausgefüllt hat. Alenka erfährt, dass Selma Badasch zu diesem Zeitpunkt im Besitz von drei Blusen, zwei Röcken, zwei Seidenkleidern und zwei paar Handschuhen war. Kurz danach, am 15. August 1942, wurde sie zusammen mit ihrem Ehemann Moritz Badasch ins Ghetto Riga deportiert. Ihr Todestag ist auf den 18. August datiert. Die Badaschs waren Juden.
Ein Denkmal setzen
Alenka Tschischka engagiert sich in der Stolperstein-Initiative. Sie will den Juden und Jüdinnen, die früher in der Nachbarschaft lebten, ein Denkmal setzen. Noch in diesem Jahr werden vor ihren früheren Wohnhäusern goldfarbene Messingsteine mit den eingravierten Namen der Opfer verlegt.
Im vergangenen Sommer wurde diese Kiez-Initiative von Regina Stolzenberg und ihrer Freundin Luita Spangler aus der Hobrechtstraße ins Leben gerufen. Ein Engagement, das mit einem Besuch im Heimatverein Neukölln anfing. Im Innenhof des Museums waren zu diesem Zeitpunkt die Deportationslisten Neuköllner Juden ausgestellt. Es war ein Zufall, dass die beiden Frauen aus dem Reuterkiez darauf aufmerksam wurden. Bei der Durchsicht der Listen bemerkten sie, dass sehr viele JüdInnen in ihrer Straße gewohnt hatten – allein in ihrem Nachbarhaus drei Männer und acht Frauen.
„Als ich nach Berlin kam, gab es plötzlich keine Juden mehr“
Regina Stolzenberg wurde bewusst, dass die Nazis das jüdische Leben in Berlin nicht nur im Scheunenviertel zerstört hatten, sondern auch in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Ihre Freundin, die vor elf Jahren von New Hampshire nach Berlin gezogen ist, schüttelt langsam den Kopf. „Die meisten meiner Freunde waren jüdisch, ihre Kultur war Teil meines Alltags. Aber als ich nach Berlin kam, gab es plötzlich keine Juden mehr.“ In den USA sei es üblich, dass in den Kalendern auch die jüdischen Feiertage eingetragen sind. Hier fehlen sie.
Im Sommer starteten die beiden Frauen dann ihre Initiative. Sie sprachen NachbarInnen an und machten im Haus nebenan einen Aushang. Den entfernte der Hausmeister aber sofort. Begründung: Der Besitzer wolle nichts Politisches im Haus hängen haben. Regina und Luita wollen ihn jetzt fragen, ob er sich mit einer Spende an der Initiative beteiligen mag.
„Die Menschen setzen sich mit der Geschichte auseinander“
Fast zwanzig Leute gehören zum Unterstützerkreis der Initiative, dabei bilden acht Frauen den harten Kern. Unterstützt wird das Projekt vom Quartiersbüro und von Bärbel Ruben vom Kulturamt Neukölln. Sie hilft bei der Recherche, gibt Tipps zu Archiven, überprüft die Daten, die später auf den Steinen zu lesen sind und koordiniert die Termine für alle Steinverlegungen in Neukölln. In diesem Jahr werden es mindestens 40 sein. „Das Schöne an diesem Kunstwerk ist, dass die Menschen sich mit der Geschichte auseinander setzen, ganz dezentral“, sagt sie.
Das Geld für die elf Stolpersteine, die vor der Hobrechtstraße 57 verlegt werden sollen – 95 Euro kostet ein Stein – kam schnell zusammen. Jetzt will die Initiative weitere Leute aus dem Kiez mobilisieren. So wie Alenka, die das Projekt nun auf die Sanderstraße ausweitet. Sie hat vor kurzem Kontakt zu einem Mann aufgenommen, der als Zehnjähriger öfter zu Besuch bei einem Jungen aus der Sanderstraße 20 war. Er hieß Gerhard Jolles und wurde mit vierzehn Jahren ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Sein früherer Freund wird jetzt einen Stein für ihn spenden.
Nur ein Anfang
Doch bei den Steinen soll es nicht bleiben. „Das ist nur der Anfang“, erklärt Luita und hofft auf rege Beteiligung. Denn die Initiative hat viele Ideen entwickelt, um die Kiez-Geschichte während der NS-Zeit aufzuarbeiten: ihre Recherchen in einer Broschüre veröffentlichen, eine Veranstaltungsreihe organisieren, mit ZeitzeugInnen und Angehörigen der Opfer in Kontakt treten. Dazu kommt künftig womöglich die Pflege der Steine, sobald sie erst einmal verlegt sind. Denn immer wieder werden sie von Unbekannten mit Farbe verschmiert und unkenntlich gemacht, so wie im vergangenen Jahr in der Donaustraße. Damals ist Luita los gezogen und hat die Messingplatten gesäubert, damit man die Namen wieder lesen kann.
Der Artikel erschien im März 2009 in der Neuköllner Stadtteilzeitung reuter.