Maja Schuster & Jürgen Weber
In öffentlichen Debatten wird gerne ein Wertezerfall unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen diagnostiziert. Sie würden sich in erster Linie nur noch für sich selbst interessieren. Mit anderen solidarisch zu sein, davon wollten die meisten nichts wissen. Was ist heute Solidarität? Um diese und andere Fragen ging es, als Luise (16 Jahre, Schülerin), Jan (19 Jahre, Schüler), Paula (15 Jahre alt Schülerin und zurzeit im Praktikum als Journalistin) und Marek (16 Jahre, Schüler) zusammen mit Maja Schuster und Jürgen Weber in der Wohnküche des Wohnprojektes in Berlin/Mitte, in dem Paula und Marek seit langem leben, über den Begriff und die Bedeutung von Solidarität sprachen.
Uns würde als Erstes interessieren, was ihr mit dem Begriff Solidarität verbindet?
Marek: Das ist für mich ein unglaublich umfassender Begriff. Es ist ganz schwer zu sagen – das ist einfach das Miteinander leben und das gut Miteinander auskommen.
Paula: Solidarität bedeutet für mich eigentlich Zusammenhalt, andere Menschen zu unterstützen, zu helfen und für einander da zu sein.
Luise: Für mich heißt Solidarität hinter jemandem zu stehen, zum Beispiel wenn Paula meine Hilfe braucht, dann unterstütze ich sie.
Jan: Dem kann ich mich eigentlich nur anschließen. Solidarität hat viel mit Zusammenleben und Unterstützung zu tun, egal ob in Gruppen oder zum Beispiel beim Sport. Auf jeden Fall hat Solidarität etwas mit Stärke und Gemeinsamkeit zu tun.
Erlebt ihr in eurem Alltag Solidarität?
Luise: Ich lebe mit meiner Mutter alleine, sie muss viel arbeiten und sich durchboxen, es gibt niemanden, der hinter ihr steht. Und ich bin oft auf mich allein gestellt.
Marek: In unserem Hausprojekt ist es immer wieder Thema, vor allen Dingen in Situationen, wo es wichtig war, Solidarität zu zeigen.
Paula: Oft diskutieren wir in unserem Hausprojekt über Solidarität, wenn wir bestimmte Aufgaben nicht gemacht haben, die wir machen sollten. Dann haben wir keine große Lust, darüber zu reden, weil wir uns die ganze Zeit anhören müssen, dass wir unsolidarisch sind.
Jan: Ich glaube, in der Schule gibt es verschiedene Formen von Solidarität, wobei ich auch nicht genau weiß, ob man wirklich alles so nennen kann. In der Schule stehen eher eigene Interessen im Vordergrund.
Luise: Und von den Lehrern werden solche Themen auch nicht angesprochen. Die meisten machen ihren Unterricht und das war es dann.
Paula: Ich habe letztes Schuljahr aber auch etwas anderes erlebt: Es war so, dass ich in der Schule richtig große Probleme hatte. Auch weil ich in meiner Freizeit ziemlich viel Scheiße gebaut hatte. In meiner alten Schule haben sich Lehrer extrem dafür eingesetzt, dass ich wieder auf die richtige Bahn komme. Nicht weil sie wollten, dass ich gute Leistungen bringe, sondern weil sie auch echt an mir interessiert waren.
Jan: Ich finde, im Freundeskreis ist es einfacher solidarisch zu sein als zum Beispiel in der Schule.
Paula: In der Freundschaft ist es so, dass man sich manchmal vergisst und einfach etwas für die anderen macht.
Jan: Ja, Zusammenhalten ist ne‘ große Sache. Aber es kann sich auch ziemlich schnell ändern, sobald zwei streiten. Dann steht man zwischen zwei Freunden und dann hört es für mich ganz schnell mit der Solidarität auf. Denn in den wenigsten Fällen klappt es, dass man zu beiden sagt, ich bin auf deiner Seite und wir müssen einen echten Kompromiss finden.
Könnt ihr euch an ein Erlebnis erinnern, wo jemand mit euch solidarisch war, den ihr nicht gekannt habt?
Marek: Ich überlege gerade, mir fällt jetzt spontan nichts ein. Kann man nicht auch sagen, dass es Solidarität ist, wenn man einer Frau mit einem Kinderwagen an der Treppe hilft, den Kinderwagen hoch zu tragen?
Paula: Mich hat aber auch geprägt, dass Leute nicht solidarisch waren. Zum Beispiel was Gewalt angeht: Da erinnere ich mich, dass ich als Kind gesehen habe, wie jemand zusammengeschlagen wurde. Aber niemand hat eingegriffen.
Würdest du sagen, dass Solidarität im Alltag in der Gesellschaft allgemein nicht so verbreitet ist?
Marek: Man hätte es glaube ich ganz gerne, aber von nichts kommt nichts. Ich glaube, wenn wir solidarisch und nett wären, würden das andere Leute sehen und gut finden.
Jan: Ich glaube schon, dass es genug Solidarität gibt. Das Problem ist halt, dass die Menschen nur in ihrem eigenen Kreis solidarisch sind und alles, was darüber hinausgeht, ist für sie nicht wirklich interessant.
Marek: Wenn man von Solidarität redet, muss man auch über die Differenzen zwischen arm und reich sprechen.
Paula: Reiche Leute haben mehr Möglichkeiten, solidarisch zu sein und andere zu unterstützen. Die anderen können halt nur so auf Demonstrationen gehen oder versuchen, irgendwelche Projekte zu starten.
Marek. Geld ist nicht alles. Wenn man wenig Geld hat, kann man trotzdem solidarisch sein und vielleicht viel mehr bewegen, wenn man sich engagiert.
Paula: Ich glaube, dass die Leute selber nicht darauf kommen, solidarisch zu sein. Man müsste sie einfach ansprechen.
Marek: Aber es ist doch gerade ein Zeichen von Solidarität, wenn man bereit ist, von sich aus zu helfen, auch ohne angesprochen zu werden. Vielleicht ist es auch so ein bisschen das Großstadtsyndrom, dass man denkt, ach, die anderen können ja, es sind ja so viele hier.
Gibt es Ältere, denen ihr zuhört, wenn sie anfangen, über Solidarität zu reden?
Luise: Ich würde sagen, es kommt nicht auf die Personen an, sondern eher auf den Moment. Wenn zum Beispiel meine Mutter anfängt, darüber zu reden, ich aber andere Dinge im Kopf habe, dann interessiert mich das nicht. Aber wenn es passt, würde ich ihr auch zuhören. Das kann dann aber auch mein Vater, meine Oma oder eine Freundin meiner Mutter sein.
Paula: Ich glaube, für die meisten Jugendlichen sind Musiker mit einer Message wichtig. Im Enddefekt ist es ja so, dass wir nicht mehr so wirklich auf die Eltern hören oder kein Bock drauf haben, dass sie uns über Solidarität vollquatschen.
Würdet ihr euch denn wünschen, dass mehr über das Thema Solidarität gesprochen wird?
Marek: Das ist eine interessante Frage, aber ich glaube nicht, dass sich jemand in unserem Alter einen Nachmittag lang hinsetzt, um sich über Solidarität zu unterhalten. Das muss anders verpackt werden.