Die Küstengewässer Senegals bieten nicht mehr genug Fisch. Weil die Fischer keine Möglichkeit haben, ihr Leben zu finanzieren, riskieren sie es auf der gefährlichen Überfahrt von Afrika nach Europa.
Der Geruch nach Fisch heftet sich unangenehm streng in der Nase fest, wenn die Pirogen spät nachmittags am Strand ankommen. An Land werden sie bereits erwartet. Zunächst sind da die Männer in den gelben und olivgrünen Ölanzügen. Das Wasser steht ihnen buchstäblich bis zum Hals, während sie den Fisch körbeweise von den bunt angemalten Holzbooten an den Strand transportieren. Es wuselt, wenn es ein guter Tag war in Kayar, einer Fischerstadt an der senegalesischen Küste, zwei Stunden nördlich von der Hauptstadt Dakar. Hin und her kämpfen sich die Träger, entleeren ihre Körbe am Strand, je mehr sie transportieren, desto voller die Lohntüte. Danach übernehmen die Händlerinnen. Während der Tag der Männer endet, wenn sie gemeinsam die Boote an den Strand gezogen haben, legen die Frauen noch mal richtig los. Der Fisch muss verkauft werden, solange er noch frisch ist. Für den Transport stehen die Eislaster bereit, aus denen das Wasser tropft. Haltbar gemacht werden in der nahe gelegenen Trockenanlage nur wenige Fischsorten. Auf in Beton gegossenen Öfen räuchern die Frauen Heringe, Makrelen und Rochen unter dem offenem Himmel für den Verkauf ins Landesinnere.
In Kayar leben 85 Prozent der Menschen direkt oder indirekt vom Fisch. In der Saison kommen zu den 20.000 Einwohnern noch rund 3000 Wanderarbeiter mit ihren Familien hinzu. Doch es gibt nicht mehr viele gute Tage, an denen es am Strand geschäftig wuselt. „Viele hier sind müde,“ sagt Abdoulaye Diop, der Vorsitzende der Fischereigenossenschaft in Kayar. „Es gibt nicht mehr genug Fisch für alle.“
Rund 6000 Fischer sind im Senegal in der Fischereigenossenschaft organisiert. Im vergangenen Jahr haben sie erstmals gestreikt. „Es war nicht einfach, die Fischer davon zu überzeugen, schließlich fehlte ihnen real das Geld an diesen Tagen,“ sagt der Genossenschaftler, der auch in der nationalen Fischereigenossenschaft engagiert ist. Eine Woche haben sie die Arbeit ruhen lassen. Die Kleinfischer fordern von der Regierung den Ausverkauf des Meeres zu stoppen. Schwimmende Fischfabriken aus Europa und Japan sind verantwortlich dafür, dass es täglich weniger Fisch gibt. „Ich war selbst schon in Brüssel,“ sagt der Genossenschafter. „Wir kämpfen gegen das Abkommen mit der EU. “ Mitte des vergangenen Jahres war das Fischereiabkommen zwischen dem Senegal und der EU ausgelaufen und die Verhandlungen auch wegen des Drucks der senegalesischen Fischer gescheitert.
Verhandelt wird, weil laut UN-Seerechtskonvention jeder Küstenstaat das Recht hat, exklusiv in den ersten 200-Meilen vor seiner Küste zu fischen. Da die Europäer ihre eigenen Zonen bereits leer gefischt haben, muss die europäische Versorgung mit Fisch anders gesichert werden. Hierzu handelt die EU mit einzelnen Ländern Abkommen aus. Gegen Geld lässt der senegalesische Staat seine Küsten leer fischen. Das Nachsehen haben dabei in erster Linie die Kleinfischer. Deshalb kämpfen sie gegen die schwimmenden Fischfabriken. In diesem Kampf arbeiten die Senegalesen neben verschiedenen Nichtregierungsorganisationen auch mit europäischen Kleinfischern zusammen.
Liberaler Wirtschaftskurs schwächt die Landwirtschaft
Nicht nur in der Fischerei schaffen es die Menschen immer weniger, sich ein Existenz sicherndes Einkommen zu erwirtschaften. Die reale Arbeitslosigkeit wird auf 40 Prozent geschätzt. In der Landwirtschaft kritisieren Bauernverbände die Abhängigkeit des Landes von Importen. Während Erdnüsse exportiert werden, müssten Weizen zu 100 Prozent, Reis zu 80 Prozent und Milchpulver zu 70 Prozent importiert werden. Der liberale Präsident Abdoulaye Wade (PDS, Parti Democratique Segalais) hatte zu Beginn seiner Amtszeit einen wirtschaftsliberalen Kurs gefahren und die Importzölle radikal gesenkt. So konnten unter anderen die Länder der Europäischen Union Lebensmittel zu Dumpingpreisen einführen, was den heimischen Kleinbauern die Existenzgrundlagen raubte.
Arbeit. Existenzsicherung. Überall wird hier darüber diskutiert. Denn das Fehlen des einen bringt die Abwesenheit der anderen. Tausende meist junge Männer machen sich auf nach Europa. In den weltweiten Migrationsbewegungen machen sie nur einen kleinen Teil aus, aber die Überfahrt in den Holzbooten ist gefährlich. 6000 Menschen haben nach Schätzungen in den vergangenen Jahren ihr Leben verloren, allein diese Tatsache macht die heimliche Migration, wie sie hier genannt wird zu einem Thema, das die Menschen bewegt. Aus Kayar haben bisher 3000 junge Männer und einige Frauen versucht übers Meer nach Europa zu gelangen und dort Geld für ihre Familie zu verdienen.
Die zurückgebliebenen Frauen arrangieren sich mit der Situation. Aisha Dieng wartet seit sechs Monaten auf Geld aus Europa. Ihr Mann hat die Reise mit dem Boot überstanden, jetzt versucht er von Spanien aus, seine Familie zu finanzieren. „Ich wollte nicht, dass er von hier fortgeht,“ sagt die 25-jährige. Jetzt muss sie den Alltag mit ihren vier Kindern allein organisieren. Die Familie hilft hier und da aus. Wenn beispielsweise das Schulgeld fehlt oder eines der Kinder Medikamente braucht. Sie ist fest davon überzeugt, dass ihr Mann alles versucht, um sie zu unterstützen. „Wenn wir telefonieren, sagt er, ich und die Kinder fehlen ihm.“ Sonntags trifft sie sich mit ihren Freundinnen, auch das hilft mit der Situation umzugehen. „Immerhin hat er es geschafft.“
Denn seit dem Rücknahmeabkommen ihres Präsidenten Wade mit Spanien wurden viele Migranten per Flugzeug zurückgeschickt. Das Staatsoberhaupt ist umstritten wegen dieses Abkommens, hat er doch auf der anderen Seite sein Wahlversprechen, die Misere der Jugendlichen zu bekämpfen nicht eingelöst. „Warum darf Europa seine Waren bei uns einführen, will aber unsere Kinder nicht bei sich haben? Ich finde es unverantwortlich, wenn afrikanische Regierungen mit Europa Abkommen unterzeichnen, die jungen Afrikanern untersagen, nach Europa zu gehen,“ so der Journalist Abdou Latif Coulibaly.
Hubschrauber kontrolliert täglich
„Das Meer zeigt seine mystischen Seiten, wenn du da draußen bist. Darauf musst du dich vorbereiten, sonst bist du verloren.“ Der Mann, der das sagt, lächelt sanft. Gemeinsam mit 139 anderen jungen Männern hat El Hadji Ass Sow eine der Pirogen am Strand von Kayar bestiegen. Heimlich im Morgengrauen. Der Hubschrauber, gesponsert von der spanischen Regierung, der täglich den Strand vor blauem Himmel abfliegt, hat sie nicht entdeckt und auch nicht die Boote der Küstenwache. Acht Tage brauchen sie für die rund 3000 Kilometer. Acht lange Tage auf dem offenen Meer, denn die Botte müssen in internationalen Gewässern fahren, um nicht von den Küstenschiffen zur Umkehr gezwungen zu werden. Acht mal 24 Stunden bewegungslos, denn sie waren vierzig Menschen zuviel. Einige bekamen Wahnvorstellungen, versuchten sich ins Meer zu stürzen, erzählt Ass Sow. In seinem Boot wollten die meisten lieber sterben als umkehren. Als sie am Strand von Las Palmas ankamen, konnte keiner mehr laufen. Sie fielen einfach um und wurden von den Helfern des Roten Kreuzes eingesammelt. Ass Sow ist wieder zurück. Nach zwei Wochen saß er im Flugzeug Richtung Heimat. Er ist ein anderer Mensch seit dieser Reise. Noch einmal wird er sie nicht machen, nach Europa will er immer noch. Denn das Land der Familie gibt nicht genug her. Eine andere Arbeit findet er nicht. Ohne Arbeit kann er seine Familie nicht unterstützen. Dabei ist er der älteste Bruder, das bedeutet eine besondere Verantwortung.
Einer seiner jüngeren Brüder ist gar nicht einverstanden mit seiner Entscheidung. Soulaye Sow ist in der Kommunalpolitik aktiv. Der Sozialist ist überzeugter Gegner der klandestinen Migration, gerade weil er weiß, dass die Arbeitslosigkeit die meisten Männer überzeugt, das Land zu verlassen. „Der Weg übers Meer ist Selbstmord,“ sagt der Literaturwissenschaftler. „Und das, um sich in Europa ausbeuten zu lassen und so das kapitalistische System zu stützen.“ Stattdessen sollen sie lieber versuchen, hier im Senegal etwas aufzubauen. Gehen oder bleiben? Die Debatte um die Migration ist allgegenwärtig und kontrovers. Nur in den Ursachen sind sich alle einig: Arbeitsplätze müssen her.
Aufgemacht hat sich auch Sehdi Diouf. Unterstützt und überzeugt von seiner Familie, denn er selbst wollte gar nicht weg. Aber da er sowohl seine Schule abbrechen musste, als auch seine Ausbildung zum Mechaniker – immer brauchte die Familie kurzfristig Geld und konnte die private Ausbildung nicht mehr bezahlen – sind seine Aussichten schlecht. Nachdem ihm zum dritten Mal ein Platz auf einem Boot zugesagt wurde, stieg er ein. „Meine Mutter wollte das so, ich sollte woanders mein Glück machen,“ erinnert er sich. „Und ich wollte möglichst schnell Geld verdienen“. Mit 82 anderen Männern fuhr er los. Es wurden sieben Tag Hölle. „Die Wellen waren so stark, wir mussten Wasser aus dem Boot schöpfen und unser Sonnensegel ins Meer werfen, damit wir nicht untergehen.“ Sie konnten nichts mehr essen, die meisten waren seekrank. Einer von ihnen überlebte nicht. Sie nahmen seine Leiche mit an Land, als sie endlich ankamen. „Krank, hungrig aber überglücklich,“ erinnert sich Sehdi. Er ist 21 Jahre alt. Mit dem Boot wird er auf keinen Fall noch mal fahren. Aber länger als eine Woche in zu Europa sein, ist noch immer sein Ziel.
Mütter organisieren sich
„Meine Mutter wollte das so.“ Wenn Aram Leye das hört, nickt sie traurig. Sie wohnt in Thiaroye sur Mer, etwa eine Stunde südlich von Dakar. Auch von hier haben sich viele junge Männer auf den Weg gemacht. Die meisten wurden von ihrer Familie dabei unterstützt. „Am Anfang dachten wir, übers Meer, das ist der Wahnsinn, aber als dann die ersten Meldungen kamen, dass es auch von hier möglich ist, wollten immer mehr losfahren,“ erinnert sie sich. Doch dann begann das Warten. Aus Thiaroye werden zwei Boote vermisst. 170 Menschen sind auf dem Meer verschollen. Seit über einem Jahr gibt es keine Nachrichten. Auch Aram Leyes Sohn war dabei. Wenn sie von ihm spricht wird ihr trauriges Gesicht noch düsterer, ihre Lippen zittern. „Anfangs bin ich jeden Tag zum Strand gelaufen. Ich musste einfach, es war wie ein Zwang. Ich habe geweint und gewartet.“ Ihre Rettung war damals eine andere Mutter. Yayi Bayam Diouf hat ihren einzigen Sohn bei dieser Überfahrt verloren. Sie hat die anderen Frauen zusammengetrommelt, von Haus zu Haus ist sie dafür gegangen.
375 Mitglieder hat das „Colletif des Femmes pour la lutte contre l’immigration clandestine“ bereits jetzt. Jeden Tag kommen viele von ihnen zusammen. Die Frauen kochen zusammen Couscous und machen Fruchtsaft. Beides verkaufen sie in der Stadt. Wenn Geld übrig bleibt, kann eine von ihnen ein eigenes Geschäft aufmachen. „Aber das Wichtigste ist, das wir jeden Tag hier zusammen sind. Wir reden miteinander, arbeiten zusammen und können so unsere Trauer vergessen,“ sagt Aram Laye. Für die Frauen ist es schwer, mit ihren Schuldgefühlen fertig zu werden. Schließlich haben viele von ihnen ihre Söhne unterstützt. „Das war bei mir anders, zum Glück,“ erinnert sich Aram Laye. „Ich habe meinem Sohn gesagt: Steig nicht in das Boot!“ Trotzdem war er eines Tages fort. Hatte alles verkauft, seine Frau und sein neu geborenes Kind ebenso zurückgelassen wie seine Mutter. „Er wolle für sein Kind eine große Taufe ausrichten können, hat er zu mir gesagt.“ Sie lächelt. „Er wollte seiner Familie etwas bieten.“ Die Verantwortung für die Familie liegt jetzt bei ihr, denn ihr Mann ist noch vor der Reise ihres Sohnes gestorben. Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, arbeitet sie hart. An den Strand geht sie nicht mehr. „Ich weiß, dass er tot ist. Trotzdem bete ich jeden Tag für ihn und denke, vielleicht kommt er ja doch wieder.“
Ihrem zweiten Sohn, der bereits seine Reise vorbereitet hat, verbot sie kurzerhand, zu fahren. Ob es hilft, weiß Aram Laye nicht. Gemeinsam mit den anderen Frauen versucht sie, die Söhne und Töchter der Stadt zu überzeugen, einen anderen Weg einzuschlagen. Aber Einreisepapiere sind teuer und schwer zu bekommen. Nachdem zwei Fabriken geschlossen haben, ist die Situation noch auswegloser. Khoudia Niang vom Colletif weiß, dass die jungen Männer sich nichts von ihren Müttern sagen lassen: „Deshalb haben wir einen örtlichen Wrestling-Champion auf unsere Seite geholt.“ Der Sport und vor allem seine Sportler stehen hoch im Kurs im Senegal. Ringen für den Kampf gegen die heimliche Migration.
Zurück in Kayar hoffen die Fischer weiter auf einen guten Fang. Aber das Meer ist stürmisch im Winter, sie fahren nur an wenigen Tagen raus. Am Strand diskutieren die Wartenden angeregt über einen Fischer, der festgenommen wurde. Er hatte sein Boot für die Migration verkauft. Wegen des starken Windes fahren momentan auch wenige Boote Richtung Europa. „Jetzt da raus fahren, das ist wirklich Selbstmord,“ sagt Sehdi, der selber als Fischer gearbeitet hat. Trotzdem weiß er von einem Boot, dass in der Nacht starten will. Ein Freund wird dabei sein. Er nicht.