Dirk Stegemann gilt als Berliner Vollzeitaktivist. Kaum eine Demo kommt ohne ihn aus.
Von Tim Zülch
Es ist ein trüber Tag, eine Woche nach dem Kompromissangebot des Senats an die Flüchtlinge, die seit über einem Jahr in Berlin-Kreuzberg aus Protest campieren. Dirk Stegemann steht auf dem Oranienplatz und lässt sich beschimpfen. Das Fernsehen ist dabei. Ein Teil der Flüchtlinge will das Angebot auf Wohnraum und Einzelfallprüfungen annehmen und den Oranienplatz räumen. Bashir Zaharia ist aufgebracht. »Ihr wollt, dass wir hier bleiben und im Dreck leben, während ihr schöne Wohnungen habt«. »That is not right«, sagt Stegemann. Viel mehr sagt er nicht.
Das Gerangel um eine Lösung für die Flüchtlinge schlägt auf die Nerven der Beteiligten. Das Leben als Unterstützer der Flüchtlinge, als »supporter« wie Stegemann sagt, kann unangenehm sein, wenn man zwischen die Fronten gerät. Später sagt er: »Ich unterstütze die Entscheidungen der Flüchtlinge. Die können für sich selbst reden und entscheiden. Nicht wir spalten die Flüchtlinge, der Senat spaltet die Flüchtlinge«.
Dirk Stegemann unterstützt seit dem Beginn des Camps auf dem Oranienplatz die Flüchtlinge, wenn sie Hilfe brauchen. Und das ist oft der Fall. »Auch ich war neben vielen anderen ansprechbar, wenn es Fragen zur Polizei gab, Kontakte zu Anwälten, Bezirksamt oder Logistik gebraucht wurden oder Medien mobilisiert werden sollten«. Durch seine Omnipräsenz wird er sogar teilweise als Stellvertreter der Flüchtlinge gesehen. Aber so sieht er sich selbst nicht. Wahrscheinlich hat niemand im letzten Jahr mehr Demonstrationen oder Kundgebungen angemeldet als er. »Ich kann nicht sagen, wie viele es waren, aber es dürften wohl bald mehrere Aktenordner voll sein«, sagt er mit einem Grinsen. »Bei einer Spontandemonstration kommen des Öfteren Polizisten auf mich zu und fragen, ob ich die nicht vielleicht anmelden will. Auch Medienvertreter kommen auf mich zu und fragen nach Statements«. Doch recht ist ihm das gar nicht, sagt er. Er stehe eigentlich nicht gerne in der Öffentlichkeit.
Dirk Stegemann sitzt in einer Pizzeria am Anhalter Bahnhof. Draußen scheint die Sonne, doch er hat sich in eine der dunkelsten Ecken verzogen – versteckt hinter Laptop und Kaffeetasse. »Draußen gibt es keine Steckdose und kein W-Lan«, erklärt er, während er sich einen Zigarillo ansteckt. »Ich bin ständig online, das gehört zu meinem Leben als Aktivist einfach dazu. Ich muss einfach immer auf dem aktuellen Stand sein.«
Stegemann ist in vielen Themen zu Hause. Er engagiert sich nicht nur für die Flüchtlinge auf dem Oranienplatz, sondern ist auch beim Bündnis gegen Zwangsräumungen, zeigt Gesicht gegen Rechtspopulismus oder für das Gedenken an das ehemalige Arbeitshaus an der Rummelsburger Bucht. Doch diese Themen seien alle nur Symptome. Das Problem liege tiefer, »Das System ist falsch«, sagt er, »der Kapitalismus als gnadenloses Konkurrenzsystem der Umverteilung von unten nach oben«. Wenn Stegemann erzählt, kommt er von einem Thema zum anderen. Er redet überlegt, verständlich, doch irgendwann fällt es trotzdem schwer ihm zu folgen. Überall sieht er Querverbindungen, ähnliche Mechanismen: Flüchtlingspolitik, Sitzblockade in Dresden, Kolonialismus, Bildungspolitik, Mietenpolitik oder die Anti-Russland-Demonstrationen am Brandenburger Tor. Irgendwann fasst er sich dann mit beiden Händen an den Kopf, der Zigarillo in der linken Hand ist längst erloschen. »Ich sollte mal ein Buch schreiben«, sagt er dann und lacht über sich selbst. »Ich habe ein sensibles Unrechtsbewusstsein. Ich kann einfach oft nicht anders, ich muss mich überall engagieren.«
Stegemann ist geboren in Neuruppin. Als zweites von drei Geschwistern. Nach der vierten Klasse zogen seine Eltern nach Potsdam. Er begann eine Offiziersausbildung, studierte politische Wissenschaft. 2006 kam er nach Berlin. Momentan hat er eine 20-Stunden-Stelle bei einer Bundestagsabgeordneten der LINKEN.
»Ich war immer unangepasst, wollte mich nie unterordnen. Schon als Kind bin ich aus Kindergarten und Schule ausgerissen. Man fand mich dann in einem Wohnblock für vietnamesische Vertragsarbeiter. Da gefiel es mir, ich habe mich wohlgefühlt«. Auch während der Offiziersausbildung büxte Stegemann immer wieder aus, besuchte, obwohl er Wache hatte, heimlich Nachtlokale. Traf sich mit Westbekanntschaften. »Disziplin war nie mein Thema«, sagt er, während sein Blick an der Fassade des Wohnblocks gegenüber emporwandert. »Berufsdemonstrant«, »Vollzeitaktivist«. Stegemann zuckt mit den Schultern, die Begriffe scheinen keine Provokation zu sein. Ein Leben zwischen Plena, Recherchen, Aktionen, Vorbereitungstreffen und Verhandlungen über Demorouten, das keinen Platz für ein Privatleben lässt. Er führt ein Leben, das ihn droht finanziell zu ruinieren. Selten findet er Zeit, sich um Gerichts- und Anwaltsrechnung oder Bußgelder zu kümmern. Doch auch nervlich sieht er Grenzen: »Die Menschen am Oranienplatz haben unvorstellbare Schicksale und schlimme Dinge erlebt. Das geht mir sehr an die Nieren.«
»Die große Veränderung oder gar einen Systemwechsel werden wohl noch auf sich warten lassen«, sagt Stegemann. Seine Wünsche für die Zukunft sind bescheidener: »Ein bisschen mehr Glück und Miteinander für alle.«