Auch drei Jahre nach dem Sturz Ben Alis sehen immer mehr junge Leute in Auswanderung die einzige Perspektive. Der nationale Dialog in Tunesien ist gescheitert. Die Regierungspartei Ennahda klebt an der Macht, und vor allem junge Menschen suchen frustriert das Weite.
»Die werden niemals freiwillig die Macht loslassen und aus der Regierung gehen«, sagt Sonja Garziz und schaut über den öden Kasbah-Platz in der Nähe des Regierungssitzes. Sonja Garziz spricht von Ennahda, der islamischen Regierungspartei, die nach Sturz des autoritären Herrschers Zine el-Abidine Ben Ali im Oktober 2011 bei den ersten freien Wahlen an die Regierung kam.
Innerhalb eines Jahres sollte sie in einer verfassungsgebenden Versammlung eine neue Verfassung erarbeiten und zusammen mit zwei kleineren Parteien die Regierungsgeschäfte führen. Doch mittlerweile ist die verfassungsgebende Versammlung handlungsunfähig und der von der mächtigen Gewerkschaft UGTT eingeleitete »nationale Dialog« zur Übergabe der Regierungsgeschäfte an eine Übergangsregierung abgebrochen.
Sonja Garziz glaubt nicht mehr an eine Verhandlungslösung. Sie denkt, es werde eine zweite Revolution geben – und sie sieht das nicht mal negativ: »Im Moment ist die Lage einfach hoffnungslos. Die einzige Chance, unsere Hoffnung wiederzuerlangen, wäre eine neue Erhebung des Volks.«
Sonja Garziz ist 26, hat gerade ihr Grafikstudium beendet und ist momentan auf Arbeitssuche. 30 Bewerbungen hat sie geschrieben, doch nur drei Firmen haben sie zum Vorstellungsgespräch eingeladen. »Beim ersten Vorstellungsgespräch ist mir angeboten worden, dass ich die ersten sechs Monate gratis arbeiten soll. Die anderen beiden Rückmeldungen, wo ich mich persönlich vorstellen konnte, waren nur Praktika ohne Bezahlung«.
Die Arbeitslosenrate stieg nach der tunesischen Revolution von Januar 2011 sprunghaft von 13 auf 19 Prozent. Vor allem junge Leute sind betroffen. Die Hälfte der weiblichen Hochschulabsolventen in Tunesien ist arbeitslos. Mittlerweile sinkt die Arbeitslosigkeit offiziell, allerdings bleibt sie außerhalb der Städte nach wie vor sehr hoch. Im Bewusstsein der Menschen ist die Arbeitslosigkeit ein Hauptgrund für die verbreitete Hoffnungslosigkeit.
Vor einem Jahr steckte sich der 27-jährige Zigarettenverkäufer Adel Khazri in Tunis selbst in Brand. Nach Berichten von Augenzeugen stand er – bereits brennend – auf der obersten Stufe des Stadttheaters an der belebten Avenue Bourguiba und rief: »Das ist Tunesien, das ist Arbeitslosigkeit.« Im Krankenhaus erlag er wenig später seinen Verletzungen.
Sonja Garziz findet Zuversicht in politischem Engagement. Zusammen mit einer Gruppe junger Leute hat sie vor einem Jahr den Verein Article 13 gegründet, in dem sie sich für Bewegungsfreiheit und gegen den verbreiteten Rassismus im Land einsetzt. Außerdem betreibt sie mit einer anderen Gruppe ein Musikstudio, um jungen Musikern aus den armen Stadtvierteln eine Möglichkeit zu geben, ihre Musik aufzunehmen. Sie würde gerne mithelfen, in einer zweiten Revolution eine wirkliche Demokratie einzuführen, andererseits plant sie seit längerem ihre Ausreise nach Kanada. »Kanada hat die Pforten für Tunesier geöffnet, meine Schwester ist auch schon da. Ich will nicht für immer dort bleiben, aber wenn ich die kanadische Staatsbürgerschaft hätte, könnte ich überall hinreisen, ohne mühsam teure Visa zu beantragen. Am liebsten würde ich dann nach Berlin reisen.«
Die Möglichkeit, ein legales Visum für ein europäisches Land zu ergattern, ist für viele Tunesier praktisch nicht vorhanden. Man müsse eine feste Arbeit vorweisen und verheiratet sein, so Garziz, selbst dann seien die Aussichten äußerst gering. Der Antrag für ein Schengenvisum kostet 60 Euro – egal ob der Antrag angenommen oder abgelehnt wird. Seit neuestem müssen junge Tunesier eine Genehmigung der Eltern vorlegen, wenn sie ausreisen wollen. »Harraga«, die Flucht über das Mittelmeer in seeuntüchtigen Booten, ist für viele die einzige Möglichkeit, das Land und die Hoffnungslosigkeit zu verlassen.
In letzter Zeit greift die Regierung hart gegen unliebsame Künstler, vor allem Musiker, durch. Mitte des Jahres wurden zwei tunesische Rapper bei einem Konzert in Hammamet festgenommen und zu jeweils einem Jahr und neun Monaten Haft verurteilt. Grund war zum einen der Text eines Songs des Rappers Weld El 15 »Boulicia Kleb«, der Polizisten mit Hunden vergleicht. Premierminister Ali Larayedh verteidigte damals das Urteil, da der Song Hass auslöse und zum Töten von Polizisten aufrufe. Der Fall erregte Aufsehen über Tunesien hinaus.
Die Organisation Human Rights Watch forderte die Abschaffung des Gesetzes, das Kritik an Offiziellen unter Strafe stellt. Weld El 15 ist seitdem auf der Flucht. In einem Fernsehbeitrag beklagt er, er sei zu den Vorwürfen niemals angehört worden.
Auch Nejib Abidi wurde festgenommen. Abidi ist Mitte 30 und Filmemacher. Mitte September drangen Polizisten in seine Wohnung ein, als er gerade dabei war, einen Film fertigzustellen, der wenig später in Tunis auf einem Menschenrechtsfestival gezeigt werden sollte. In dem Film geht es um tunesische Bootsflüchtlinge, die in Italien landen und in der Folge verschwinden. Seiner Meinung nach sind die italienische Regierung und das italienische Militär dafür verantwortlich, dass Flüchtlinge in Italien verschwinden. Die tunesischen Polizisten nahmen ihn und seine gesamte Filmcrew fest und konfiszierten diverse Festplatten. Eine Woche blieb er in Haft. Seinen Film konnte er nicht mehr pünktlich zum Filmfestival fertigstellen.
Für Bloggerin Lina Ben Mhenni ist das Land nach dem hoffnungsvollen arabischen Frühling in einem »tiefen, bitteren Winter« angekommen. Im Herbst 2010, bei Ausbruch der Revolution, hat sie in ihren Blogs über die Vorgänge in Sidi Bouzid, im Süden des Landes, berichtet. Dort hatte sich 2010 Mohamed Bouazizi aus Protest gegen die Konfiszierung seines Gemüsestandes bei lebendigem Leibe verbrannt und sorgte so für den Ausbruch der Revolution. Die schmächtige Frau sitzt in einem Café gegenüber dem Gerichtsgebäude. Gerade sei sie bei einem Prozess gegen eine Gruppe von Filmemachern gewesen, denen Haschischkonsum vorgeworfen werde. Doch nicht nur die Regierung, auch die Salafisten machten jungen Leuten das Leben schwer. Auf Listen und in einem Video der Salafisten sei ihr Name aufgetaucht, darum habe sie jetzt Polizeischutz, sagt Ben Mhenni. Ein Beamter in Uniform weicht ihr nicht von der Seite.
Unter anderem an den Universitäten versuchen Salafisten, ihr Weltbild durchzusetzen. Kürzlich hissten sie auf dem Campus der Universität Manuba, in der Nähe von Tunis, eine Fahne von Al Qaida, berichtet Mohamed Ben Ghazi von der Gewerkschaft der Studierenden. Es kam zu Handgreiflichkeiten, als Mitglieder seiner Gewerkschaft die Fahne abnehmen wollten. Salafistische Gruppen fordern, dass die Vollverschleierung von Frauen an Universitäten des Landes zugelassen werde. Dass mit diesen Gruppen nicht zu spaßen ist und ihre Macht zunimmt, zeigte küein Vorfall an der algerischen Grenze. Salafisten enthaupteten fünf Soldaten. Ende Oktober sprengte sich ein Selbstmordattentäter in der Küstenstadt Sousse in die Luft. Wie durch ein Wunder wurde niemand außer dem Attentäter verletzt.
Wild entlädt sich der Zorn der Jugendlichen auf diese Zustände bei einer Kundgebung in der Nähe der Altstadt von Tunis. Mit Holzlatten prügeln sie auf Bilder der islamischen Regierung ein, die auf Pappe aufgeklebt sind. Kurz zuvor hatten tunesische Anwälte Beweise angekündigt, dass die Regierung in die Ermordung des Oppositionspolitikers Chokri Belaïd im Februar verwickelt sei. Ein Libyer, der Belaïd erschossen haben soll, sei vor der Tat von tunesischen Offiziellen empfangen worden, so die Anwälte.
Ende Juli wurde auch Mohamed Brahmi, Politiker der oppositionellen Volksfront, ermordet – laut Regierung mit der gleichen Waffe. »Ich habe immer gewusst, dass die Regierung dahinter steckt«, sagt Sonja Garziz, »nur fehlten die Beweise.«
Kilometerweise Stacheldraht sperrt die wichtigen Gebäude in Tunis vor Demonstranten ab. Die Regierung igelt sich ein. Auch wenn das Leben im Zentrum von Tunis normal erscheint, unter der Oberfläche brodelt es. »Es ist völlig unklar, wie es weitergeht«, sagt Bloggerin Ben Mhenni, »Ich sehe die Gefahr, dass sich in Tunesien gerade eine neue Diktatur etabliert. Nach dem Sturz Ben Alis haben wir die Angst verloren, uns frei zu äußern, doch die Prozesse gegen junge Leute verbreiten erneut ein Klima der Unterdrückung.«
* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 2. Januar 2014