Zwangsarbeit auf dem Tempelhofer Feld in Berlin während des Nationalsozialismus
Die Reportage lief am 2. September 2013 auf Deutschlandradio Kultur
Auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof produzierten die Nazis während des Zweiten Weltkriegs Kriegsbomber und machten dafür Tausende zu Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern. Ein Geschichtsverein begleitet einige von ihnen auf das Tempelhofer Feld.
Mariya Kulish steht in Pantoffeln auf dem Tempelhofer Feld. Ihre Schuhe hat sie im Hotel gelassen, zu unbequem für das, was sie sich für heute vorgenommen hat. Hinter ihr ragt der Radarturm des ausgedienten Flughafens Berlin-Tempelhof in die Höhe. Ein gigantisches Gelände mitten in der Stadt – seit der Schließung des Flughafens zum Park umfunktioniert.
Mariya Kulish ist 81 Jahre alt und lebt in der Ukraine. Sie war als Kind das letzte Mal hier: In den letzten Kriegsjahren haben die Nazis sie nach Deutschland verschleppt, zusammen mit ihrer Mutter. Die musste als Zwangsarbeiterin für die deutsche Rüstungsindustrie arbeiten, in einer Montagehalle im Flughafengebäude. Der „Förderverein für ein Gedenken an die Naziverbrechen auf dem Tempelhofer Flugfeld“ hat Mariya Kulish nach Berlin eingeladen – zusammen mit Olena Skladaniuk, die auch als Kind verschleppt wurde.
Mariya Kulish: „Hier an der Stelle war ein kleines Häuschen. Da haben sie kleine Sachen verkauft und ab und an gab jemand kleines Geld, und da konnten sie Kleinigkeit kaufen, kleine Broschen oder so.“
Beate Winzer: „Das war praktisch am Ausgang des damaligen Lilienthallagers, da gab es hier eine kleine Lagerstraße. Und auf dieser Lagerstraße war es möglich, dass die so genannten Ostarbeiter etwas erwerben konnten. (…) nicht viel…“
Die Historikerin Beate Winzer beschäftigt sich schon seit Jahren mit der vergessenen Geschichte des Flughafens Tempelhof während der NS-Zeit.
Übersetzerin von Maria Kulish: „Beate, sie würde gern den Ort anschauen, wo sie lebte.“
Beate Winzer: „Dann gehen wir jetzt nach da…“
Die Gruppe setzt sich in Bewegung, die beiden alten Damen gehen langsam am Rande des Parks.
Winzer: „Wenn wir uns hier umdrehen: Hier überall waren die großen Lager, die großen Ostarbeiterlager. Könnt ihr euch daran erinnern?“
Übersetzerin: „Ja, sie kann sich erinnern. Das waren Baracken aus Holz.“
Mariya Kulish erzählt von all den Leuten, die in den Baracken untergebracht waren: Ukrainer, Russen, Tschechen und Polen. Sie mussten alle sehr hart arbeiten. Sie kann sich auch an einen russischen Dolmetscher erinnern: Die Deutschen haben ihn verdächtigt, dass er etwas gegen sie hatte und haben ihn in ein Konzentrationslager gebracht. Alle haben geweint, auch die Kinder. Er hieß Wasja.
Gleich erreicht die Gruppe die Stelle, wo die Baracke Nummer acht gestanden hat. Hier wohnte Mariya Kulish mit ihrer Mutter, zusammen mit 40 anderen Frauen und Kindern – und unzähligen Kakerlaken. Die Kinder mussten altes Gemüse sortieren, das die Bauern auf die Straße gekippt hatten. Und manchmal spielten sie auf dem Boden in der Baracke und bauten Häuser aus Erde.
Heute gibt es gleich daneben ein Baseballfeld und einen Tennisplatz, dazwischen: Hunde an der Leine, kleine Kinder in Buggys und größere Kinder mit Inlinern – Freizeitidylle. Frau Kulish lächelt.
Übersetzerin: „Sie freut sich, dass hier Kinder spielen dürfen. Sie findet das sehr gut, dass der Ort nicht vergessen wird und nicht ganz verlassen wurde, sondern dass die Kinder hier spielen dürfen und eine schöne Zeit haben dürfen. Sie denkt, es wäre sehr gut, wenn die Kinder und Jugendlichen hier spielen könnten und währenddessen könnten sie dann die Mahnmale sehen oder Denkmäler oder was auch immer. Und dann könnten sie die Eltern fragen, warum und wofür es hier steht. Und die Eltern könnten dann erklären.“
Beate Winzer: „Wenn ich das richtig verstehe, würde sie am schönsten einen offenen Gedenkort haben, wo tatsächlich auch hier draußen die Informationstafeln stehen, wo steht, was hier war. Aber es soll ein offener Gedenkort sein, also einer, wo auch Familien hinkommen können.“
Die Gruppe ist am nördlichen Rand des Tempelhofer Felds angekommen. Mariya Kulish und Olena Skladaniuk sind nach dem Rundgang erschöpft. Frau Kulishs Tochter Larysa bedankt sich beim Förderverein, der in diesem Jahr mehrere frühere Zwangsarbeiter oder ihre Kinder zu Gedenkveranstaltungen nach Berlin einlädt. Am Ende ist es dann Andrii, der Enkel von Olena Skladaniuk, der noch einmal das Wort ergreift:
„Erst wollte meine Oma nicht nach Berlin kommen. Sie fühlte sich einfach zu alt dazu. Ich habe mich dann aber dafür eingesetzt und sie unterstützt. Ich bin der Meinung, dass nur diejenigen die richtige Geschichte kennen, die sie erlebt haben. Alles, was danach erzählt wird, ist manchmal reine Auslegung – je nach politischer Stimmungslage.“
Das wichtigste ist der Frieden, sagt Mariya Kulish, und blickt noch einmal zurück auf das bunte Treiben im Park – den Ort, der für sie und ihre Mutter ein Gefängnis war. Alle sind sich einig: Es ist wichtig, die Erinnerung wach zu halten, denn so etwas darf nie wieder passieren.