Jean-Marce Banoho holt einen Brief aus seiner Jackentasche, Absender: »Familiengericht Berlin-Kreuzberg, Kosteneinziehungsstelle der Justiz«. Er setzt sich an einen der Tische vor der großen Schaufensterscheibe im Infocafé »Der Winkel« und wählt die Nummer der Kosteneinziehungsstelle. Ein Asylbewerber aus Kamerun habe ihn um Hilfe gebeten, weil er Schulden beim Gericht habe, erklärt er. »Ja, guten Tag, hier ist Jean-Marce Banoho, ich bin Sozialarbeiter.« Es geht um Unterhaltszahlungen. Der junge Kameruner sitzt seit kurzem in Abschiebehaft in Eisenhüttenstadt. Das Familiengericht hat ihm 1000 Euro in Rechnung gestellt. Ja, eine Ratenzahlung sei möglich, erfährt Jean-Marce, dafür müsse allerdings ein Nachweis erbracht werden. Jean-Marce Banoho legt auf und scheint fürs Erste zufrieden. Er weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer es ist, sich im deutschen Behördendschungel zurecht zu finden. Zumal, wenn man die deutsche Sprache kaum spricht. Er war selbst vor Jahren in einem Asylheim, in Plessow bei Potsdam. Ursprünglich war er als Student nach Deutschland gekommen. Das war 1996.
Kontinuierliche Arbeit gegen Rechts
In den 1990ern war die Kreisstadt Belzig auf dem Weg, eine »national befreite Zone« zu werden, erinnert sich ein ehrenamtlicher Mitarbeiter des Infocafés »Der Winkel«. Der Treffpunkt befindet sich in der »Straße der Einheit« inmitten der schmuck sanierten Altstadt von Bad Belzig, gut eine Autostunde südwestlich von Berlin. Das Café existiert seit 1998, ins Leben gerufen wurde es vom »Forum gegen Rechtsextremismus und Gewalt« – einem Bürgerforum, das einen geschützten Raum schaffen wollte für Flüchtlinge, MigrantInnen und alle anderen, die sich in Belzigs Straßen nicht sicher fühlen konnten. Nach einigen Jahren machte sich die Arbeit des Forums bezahlt. Flüchtlinge konnten sich in der Kleinstadt im Fläming bewegen, ohne Angst haben zu müssen.
Doch in den vergangenen Monaten gab es wieder zahlreiche neue Anschläge. Unbekannte schändeten Anfang November den Gedenkstein für den Asylbewerber Belaid Bayal, der 2000 an den Spätfolgen eines Naziangriffs gestorben war. Eine Woche später wurden die Scheiben des Infocafés »Der Winkel« eingeschlagen. Die Täter ließen zwei angedeutete Hakenkreuze auf der Fassade zurück.
Jean-Marce Banoho steckt den Brief zurück in seine Jackentasche und begrüßt Idrissa Bah, der eben das Infocafé auf Krücken betreten hat. Der junge Idrissa lebt im Belziger Wohnheim, sein Asylverfahren läuft noch. Fünfmal wurde er nach einem Unfall an seinem rechten Knie operiert, trotz Physiotherapie kann er es noch immer nicht bewegen. Die beiden fahren zu seiner Hausärztin ins örtliche Krankenhaus. Jean-Marce will für Idrissa übersetzen, er macht sich Sorgen, dass sich die kostspielige Behandlung negativ auf dessen Asylverfahren auswirken könnte. Nachdem er an der Tür zum Sprechzimmer geklopft hat, fragt die Ärztin unfreundlich: »Wieso kommen Sie erst um 12 Uhr, wenn die Sprechstunde schon vorbei ist?« Dabei ist es erst 11.40 Uhr. Als die beiden an der Reihe sind, dauert es keine fünf Minuten, bis sie mit einer Überweisung zum Orthopäden wieder aus dem Sprechzimmer kommen.
Sie machen sich auf den Weg zu Idrissas Wohnheim am nördlichen Stadtrand von Belzig, passieren die Kreisgeschäftsstelle der Linkspartei, wo der jüngste Neonazi-Anschlag verübt wurde. »We are back« schmierten die Täter Mitte Januar über zwei Hakenkreuze auf die zerstörten Fensterscheibe. In derselben Nacht wurde das Karl-Liebknecht-Denkmal geschändet.
Im Wohnheim angekommen verabschiedet sich Jean-Marce von Idrissa. Es ist Mittag, als er bei Jaynelina Mwongeli klopft. Sie erlebt gerade ihren zweiten Winter in Deutschland. In ihrem spärlich eingerichteten Zimmer ist es warm, dennoch trägt sie einen Anorak und eine weiße Fleecemütze. Im Fernsehen läuft Kika.
Vor mehr als einem Jahr ist Jaynelina vor der Gewalt in Nairobi geflohen, die sie nachts nicht mehr schlafen ließ. »Jetzt fühle mich sicher, ich kann wieder schlafen«, erklärt sie. Sollte ihr Asylantrag positiv entschieden werden, möchte sie in Belzig bleiben. Hier sei es so ruhig und friedlich. Das sagt sie trotz der jüngsten Anschläge. Schließlich ist Mitte November eine Belzigerin auf ihrem Fahrrad angegriffen worden, die vor Jahren ebenfalls aus Kenia eingewandert war. Eine Gruppe junger Männer überfiel, würgte und bedrohte sie. »Dass jemand so grausam sein kann«, sagt Jaynelina und schüttelt langsam den Kopf. Doch sie ist sich sicher: »Ich bin ein Teil von Belzig, wegen der Nazis würde ich nicht weggehen.«
Im Dezember war die 43-Jährige zusammen mit 20 anderen Flüchtlingen aus dem Belziger Wohnheim bei einem Workshop in Berlin. Ihre Augen beginnen zu leuchten, wenn sie davon erzählt. »To go to Berlin ohne Angst, free, was a good feeling – a good experience!«
Das Flüchtlingsheim – ein geistiges Gefängnis
Jean-Marce hatte das Seminar in der »Alten Feuerwache« initiiert. Dafür beantragte er für die gesamte Gruppe Urlaubsscheine bei der Ausländerbehörde. Brandenburg hat die Residenzpflicht im vergangenen Sommer zwar gelockert, abgeschafft hat das Land ihr schikanöses Kontrollinstrument aber nicht. »Das Wohnheim ist ein geistiges Gefängnis«, erklärt Banoho und meint die Langeweile im Heim, das Arbeitsverbot, das Warten auf die Entscheidung über den Asylantrag. »Die Leute müssen beweglich bleiben, damit sie die Situation überstehen.«
Jaynelina Mwongeli versucht auch nach dem Workshop in Bewegung zu bleiben. Sie macht bei Schulprojekten von Jean-Marce mit, an der Belziger Förderschule leitete sie zum Beispiel einen Tanzworkshop. Und vergangene Woche hat sie vor einer Schul-AG der Krause-Tschetschog-Oberschule getanzt.
An diesem Mittwoch wird ein Teil der Schul-AG wieder im Heim zu Besuch sein, heute steht Kochen auf dem Programm. »Kommst du mit rüber?« lädt Jean-Marce Jaynelina ein, und die beiden machen sich auf den Weg ins Nebengebäude zu Yvonne Germaine.
»16,00 m²« steht in schwarzer Schrift auf dem Schild, das an der schmucklosen weißen Tür angebracht ist. Die 42-Jährige Yvonne teilt sich das Zimmer mit einer Freundin und deren dreijährigem Sohn. Lieber zu dritt auf 16 qm als in der Baracke gegenüber, wo es laut ist und hallt, sobald jemand in der Gemeinschaftsküche mit den Töpfen scheppert. Und es scheppert sehr oft, denn das Heim ist überbelegt. In der kleinen Küchenzeile bereitet Yvonne gerade einen Hefeteig vor. Sie will Makkala machen, Hefebällchen, die in Öl ausgebacken werden. Den Teig in der grünen Plastikschüssel schlägt sie mit ihren kräftigen Händen zu einer zähen Masse.
Als die SchülerInnen der Schul-AG ins Wohnheim kommen, zeigt Yvonne, wie sie die Hefebällchen zubereitet: Sie nimmt etwas Teig in die Handinnenfläche, dreht ihre Hand um 180 Grad und lässt die Masse durch den angewinkeltem Daumen und Zeigefinger in das heiße Öl plumpsen. Die SchülerInnen machen es ihr nach und erzeugen dabei mehr oder weniger runde Bällchen. Es wird viel gelacht an diesem Nachmittag und dabei wandern viele Makkala in die Schülerbäuche.
Vor vier Jahren hat Jean-Marce die AG ins Leben gerufen. Es gibt Zehntklässler, die schon seit der siebten Klasse dabei sind – kein Wunder, dass sie sich hier wie selbstverständlich bewegen. »Welcher Zucker ist in dem Teig, weißer oder brauner?«, will Jean-Marce wissen. Einige raten, andere zucken mit den Achseln. »Bei uns in Kamerun wird der heimische braune Zucker, der Rohrzucker, exportiert. Der weiße Zucker wird importiert, und den essen die Leute«, erklärt der Sozialarbeiter. Am Ende dürfen sich alle ein Tütchen Makkala mit nach Hause nehmen. Jean-Marce ist zufrieden, wieder ein Aha-Effekt, wieder ein kleiner Schritt.
Eigentlich hätte er jetzt Feierabend. Doch dann klingelt sein Handy. Der Asylantrag eines Flüchtlings ist abgelehnt worden. Jetzt geht es darum, umgehend zu klagen, also »die Anordnung der aufschiebenden Wirkung dieser Klage gegen den Vollzug der Abschiebung zu beantragen«, wie es das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ausdrückt. Der deutsche Behördendschungel ist wieder da. Und Jean-Marce macht Überstunden.
Die Reportage erschien am 5.2.2011 in der Wochenendbeilage der Tageszeitung „Neues Deutschland“.