Die Dämmerung ist eingebrochen, der Sand auf den Straßen dämpft die Geräusche, kleine Lehmbauten verstecken sich am Straßenrand, als vier Reisebusse in die Kleinstadt Nioro im Norden Malis einfahren. Menschen mit orangefarbenen T-Shirts steigen aus den Bussen. Sie trommeln und tanzen. »Für offene Grenzen« ruft eine auf Französisch, »Für Bewegungsfreiheit« ein anderer. Dann stimmen sie ihr Lied an. Zu der Melodie von »I like the Flowers« haben sie gedichtet: »Ich mag die Karawane, ich mag den Widerstand, aber was ich am meisten mag, ist die Solidarität«. Die Bewohnerinnen und Bewohner des Ortes kommen – noch unsicher – näher.
Nioro liegt nicht weit von der malisch-mauretanischen Grenze. Mauretanien kooperiert eng mit der Europäischen Union bei der Migrationsabwehr und ist so, wie viele andere Länder West- und Nordafrikas ein Außenposten der EU geworden. An dieser Grenze finden Abschiebungen statt. Auch hier machen sich Menschen auf den Weg in ein besseres Leben. Es ist ein symbolischer Ort. »Für Bewegungsfreiheit und offene Grenzen« steht auf den Schildern und Transparenten der Karawane-TeilnehmerInnen. Sie wollen mit ihrer Karawane, die bis nach Dakar zum Weltsozialforum gehen soll, die mörderische von Europa initiierte Abschottungs- und Abschiebemaschinerie kritisieren – gleichzeitig aber auch die Lebensverhältnisse in den Ländern selbst in den Blick nehmen. Für das Recht zu gehen – und zu bleiben, heißt es auf der Webseite.
Frontex-Patrouillen in Mittelmeer und Atlantik
Hier jedoch, an dem verlassenen Grenzposten 20 Kilometer von Nioro entfernt, an der Grenze zu Mauretanien, möchte momentan kaum noch jemand seinen Weg nach Europa nehmen. Eine einsame Teerstraße, ein paar Sträucher, in einigen Hütten werden Getränke und frisch gegrilltes Ziegenfleisch verkauft. Der dortige Grenzbeamte rückt seinen Mundschutz zurecht. Gerade hat wieder eine Windböe eine ordentliche Ladung Sand aufgewirbelt. Er zeigt auf das löchrige Dach zweier gedrungener Lehmhäuser. Das Rote-Kreuz-Aufnahmelager an der Grenze ist geschlossen und verwittert langsam. Die meisten MigrantInnen wählen nämlich mittlerweile den Weg über Algerien, weil die Überfahrt von Mauretanien über den Atlantik zu den Kanaren für viele von ihnen zu gefährlich und zu unsicher geworden ist, seit die EU mit der Grenzschutzagentur Frontex dort eine enge Kooperation geschlossen hat und die Seewege zu den Kanarischen Inseln kontrolliert.
Es war vor gut einem Jahr, als die Planungen für die transnationale Karawane von Bamako nach Dakar begannen. Man hatte sich rund ein Jahr zuvor auf einem Treffen in Paris kennengelernt: die Organisation A.M.E. aus Bamako und AktivistInnen des No-Lager-Netzwerks aus Bremen und Hamburg. Die A.M.E. (Vereinigung der Abgeschobenen Malis) kümmert sich um Malier, die aus der EU oder aus anderen afrikanischen Ländern abgeschoben wurden. Im Sommer 2009 kamen Ousmane Diarra und Alassane Dicko von der A.M.E. zum Grenzcamp auf die griechische Insel Lesbos. Sie hatten einen Plan im Gepäck, den sie den deutschen AktivistInnen vorschlagen wollten: eine antirassistische Karawane zum Weltsozialforum in Dakar. Die Idee stieß auf offene Ohren. Wenig zuvor war in Deutschland das No-Lager-Netzwerk an internen Streitigkeiten zerbrochen. Das war ein »unrühmliches Ende« damals, sagt Olaf Bernau aus Bremen, der von Beginn an in die Planung der Karawane involviert war.
Zu der Zeit schienen Teile der antirassistischen Bewegung an mehreren Orten in Deutschland in eine Sackgasse geraten zu sein. Nach den erfolgreichen Grenzcamps und der Anti-Lager-Tour durch Flüchtlingslager in Deutschland waren die Konflikte zwischen migrantischen Gruppen, Flüchtlingsgruppen und Deutschen Aktivisten schließlich unüberbrückbar geworden – eine solidarische Zusammenarbeit nicht mehr möglich.
Zusätzlich wuchs im Angesicht der Ausweitung des Migrationsregimes ins Mittelmeer, in den Atlantik und nach Nordafrika auch die Notwendigkeit einer Transnationalisierung des Antirassismus. Die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla, Flüchtlingslager in Libyen, Frontex-Patrouillen vor der westafrikanischen Küste sind nur einige symbolische Stationen dieser Entwicklung.
So verfängt sich die Idee einer Karawane in den Köpfen der deutschen AktivistInnen. Sie beginnen, Spenden zu sammeln und offensiv für das Projekt zu werben. Schließlich kommen rund 40 000 Euro und 50 AktivistInnen zusammen. Jeder deutsche Aktivist zahlt dabei für zwei MigrantInnen mit. Rund 170 Malier können dadurch umsonst an der Karawane teilnehmen.
In die Wüste abgeschoben
Bernard kommt aus Kamerun. Er ist in einem Aufnahmezentrum der Flüchtlingshilfsorganisation ARACEM in Bamako gestrandet, doch jetzt schläft er unter dem Vordach eines Hotels in der Nähe. Die ARACEM kümmert sich vor allem um Abgeschobene, die nicht aus Mali kommen. Allerdings nur drei Tage, dann sind die Menschen auf sich gestellt und finden in einem nahe gelegenen Marktgelände Schlafnischen und eine gelegentliche Spende.
Bernard sitzt auf der Bank vor einer Mauer im Hof der ARACEM. Er sei verwirrt, sagt er und blickt etwas ziellos in die Ferne. Dann sammelt er sich und beginnt zu erzählen. Sein Vater sei sehr krank und er traurig, dass er nicht bei ihm sein könne. Es war vor zwei Jahren, als sein Vater das Haus der Familie verkaufte und aufs Land zog, um ihm mit den rund 6500 Euro, die er für das Haus bekam, die Reise nach Europa zu finanzieren. Mit gefälschten Papieren kam Bernard bis an die algerisch-marrokanische Grenze und wurde dort von der Polizei aufgegriffen, da er für seine auf 3500 Euro zusammengeschrumpfte Reisekasse kein gültiges Zertifikat besaß. Die algerische Polizei verfrachtete ihn auf einer Art Viehtransporter und brachte ihn dann durch die Sahara bis an die malische Grenze. Dort angekommen irrte er – zusammen mit rund 650 anderen Abgeschobenen – sieben Tage durch Sand und Hitze, ernährte sich von Ziegenmilch und Datteln, die sie von dort lebenden Nomaden bekamen, bis ihn das Rote Kreuz schließlich aufsammelte und nach Bamako brachte. Jetzt will er zurück nach Kamerun. Seine Träume von einer selbstständigen Existenz sind zerplatzt, er hat gerade mal das Geld, um gelegentlich in Kamerun anzurufen, seinem Vater geht es schlechter und schlechter.
Es sind solche Geschichten, die einen Teil der TeilnehmerInnen der Karawane unsanft am zweiten Tag ihres Aufenthalts in eine andere Realität stoßen. Für einige Tage teilen elf der deutschen AktivistInnen den Raum der ARACEM mit Menschen, die monatelang auf der Flucht waren und nun – abgeschoben und gedemütigt – vor dem Nichts stehen. Viele von ihnen können nicht an der Karawane teilnehmen. Dass das Konflikte geben könnte, wäre vorauszusehen gewesen, doch der Unmut trifft die AktivistInnen unvorbereitet. Sie erklären: »Wir wollen mit Euch zusammen kämpfen – für eine bessere Welt«. »Wir wollen Euch unsere Solidarität zeigen«. Die KarawanistInnen sind in guter Absicht hergekommen.
Zwischen Nord und Süd bleiben Widersprüche
Doch eine Frage, gestellt von einigen der Abgeschobenen, hallt im Hof der ARACEM und in den Köpfen der AktivistInnen immer wider. »Was nützt uns Eure Karawane konkret? Wie könnt ihr uns direkt helfen?« Der Widerspruch zwischen indirektem Kampf und direkter, individueller Hilfe sei nicht aufzulösen, meint einer. Das müsse man aushalten. Schließlich wird Essen gekauft, ein gemeinsames Fest soll organisiert werden. Doch der Widerspruch bleibt.
»Unsere Idee ist, zusammen mit Abgeschobenen-Gruppen hier in Mali eine Landkooperative zu gründen und ökologische Baumwolle anzubauen. Die T-Shirts könnten dann in deutschen Infoläden verkauft werden«. Das erzählt Olaf Bernau. Denn die Karawane ist keine einmalige Aktion, sie soll der Beginn einer kontinuierlichen und verbindlichen Kooperation sein, an deren Anfang gegenseitiges Zuhören und Diskutieren steht. Ein »Neuer Internationalismus« ist der Traum, dem viele hier folgen, doch der Weg dieser Karawane ist noch weit. Viel weiter als nur bis Dakar.