Manchmal hat man das Gefühl, als wiederhole sich die Geschichte. Eine rosarote Broschüre liegt auf meinem Tisch. »Den Faden weiterspinnen« ist der Titel. Darin: »Erfahrungen des Internationalen Frauenplenums W.-Berlin 1988 bis 1991«. Eine Aufarbeitung der Diskussionsprozesse einer Gruppe Frauen aus verschiedenen Ländern. Beim Lesen wird klar: Fallstricke, Missverständnisse, unterschiedliche Ausgangspunkte und Sichtweisen prägten auch schon vor 20 Jahren die Zusammenarbeit zwischen MigrantInnen, Flüchtlingen und deutschen antirassistischen Gruppen.
Die antirassistische Bewegung steckt in Deutschland in einer tiefen Krise. Es gibt kaum aktiv arbeitende Gruppen, die meisten Webseiten sind verwaist, deutsche und migrantische Gruppen haben sich weit voneinander entfernt, bei Demos gelten dreistellige TeilnehmerInnenzahlen bereits als Erfolg.
Bei der Anti-Residenzpflicht-Demonstration in Erfurt vor wenigen Wochen zeigte sich die Situation deutlich: Kaum deutsche AntirassistInnen waren anwesend, rund 50 Flüchtlinge aus Thüringer Flüchtlingsheimen demonstrierten und musizierten auf der Kundgebung für die Freilassung des kamerunischen Aktivisten Felix Otto, der wegen der Verletzung der Residenzpflicht für acht Monate ins Gefängniss musste – dabei war breit zur Teilnahme aufgerufen worden.
Scherben – trotz bester Absichten
Die Malaise ist historisch begründet. Noch 2003 schaute die antirassistische Bewegung mit Stolz auf die alljährlich stattfindenden antirassistischen Grenzcamps als Leuchttürme und Knotenpunkte ihres Engagements. Als das 6. antirassistische Grenzcamp in Köln Anfang August 2003 von der Polizei beendet und geräumt wurde, hieß es noch: »Das Genzcamp geht weiter! Für ein, zwei, hunderte Camps !!!!« Doch die Unterschiede waren bereits unüberbrückbar geworden, Flüchtlings- und MigrantInnengruppen wie »The Voice«, die Flüchtlingsinitiative Brandenburg oder »Kanak Attak« zogen sich von der Zusammenarbeit zurück. Deutsche AktivistInnen stellten die Frage, ob antirassistisches Engagement auch ohne MigrantInnen und Flüchtlinge möglich sei.
Lange – und letztlich zum Scheitern führende – Auseinandersetzungen gab es damals beispielsweise um den Begriff »Lager« als Bezeichnung für die Heime, in denen viele Flüchtlinge leben müssen. Antideutsche Gruppen sahen darin eine Verharmlosung der nationalsozialistischen Konzentrationslager.
Osaren Igbinoba von der Flüchtlingsorganisation »The Voice« sagte im November 2004 bei einem Kongress zum zehnjährigen Bestehen der Organisation: »Wenn du mich fragst, wie es heute mit den antirassistischen Gruppen in Deutschland aussieht, werde ich dir sagen, sie stehen nahezu bei null.« Mbolo Yufanyi, Aktivist derselben Gruppe, wird in einem Beitrag zum Jahrbuch des Komitee für Grundrechte und Demokratie 2009 deutlicher: »Wir wurden deportiert, vergewaltigt, von der Polizei geschlagen, vergiftet, gelähmt und sogar durch das System gänzlich zerstört. Jetzt kämpfen wir gegen Menschen, die Jahre zuvor unsere Unterstützer waren.« Die Selbstorganisierung der Flüchtlinge richte sich nicht nur gegen den Staat, sondern ebenso gegen die »völlige Dominanz der deutschen progressiven Bewegung«. Die deutsche antirassistische Bewegung steht etwas ratlos vor dem Scherbenhaufen, den sie trotz bester Absichten mit anrichtete, und widmet sich der Einzelfallarbeit.
Konkrete Gesetze oder das große Ganze
Beate Selders, die vor Kurzem eine umfangreiche Broschüre über die Residenzpflicht mit dem Titel »Keine Bewegung!« geschrieben hat, sieht das Problem auf beiden Seiten. Die deutschen antirassistischen Linken seien nicht in der Lage, sich mit ihren radikalen Positionen auf reformistische Forderungen einzulassen. Während Flüchtlingsorganisationen gegen einzelne Gesetze wie die Residenzpflicht kämpften, würden diese sich lieber für »globale Bewegungsfreiheit« oder »offene Grenzen für alle« einsetzen. Auf der anderen Seite gebe es unter Flüchtlingen AktivistInnen, die sich gerne in einer Opferrolle von ihren deutschen GenossInnen separieren.
Osaren Igbinoba von »The Voice« sieht diese Opferrolle jedoch als konstituierend für den Widerstand. »Im Prinzip sind wir doch alle Opfer des Systems. JedeR AktivistIn muss sich zu einem gewissen Punkt selbst als Opfer begreifen, wenn sie [die Deutschen] das nicht tun, dann wird es noch ein langer Weg sein. Es kann nicht angehen, dass Leute zu Demos gehen und danach ›business as usual‹ weitermachen. Wie kann man Aktivist sein, ohne zuzulassen, dass der Widerstand Teil der eigenen Kultur wird?«
Ob ein Sommercamp die Sorgen vertreibt und Widerstand und Kultur erneut vereint, bleibt abzuwarten. Am türkisblauen antirassistischen Horizont ist allerdings bereits das »no-border-camp« auszumachen, das für Ende August auf der griechischen Insel Lesbos geplant ist. Ein Protestcamp, zu dem sowohl Flüchtlingsgruppen als auch deutsche AntirassistInnen mobilisieren – und das europaweit.
Denn die antirassistische Bewegung kann nur stark sein, wenn sie zusammen kämpft, ein Antirassismus ohne die am meisten von Rassismus Betroffenen bleibt in jedem Fall unglaubwürdig. So formulierte auch eine migrantische Teilnehmerin des Internationalen Frauenplenums in der eingangs erwähnten Broschüre: »Es war für mich immer selbstverständlich, dass ich als Linke mit Weißen zusammenarbeite. Dann bin ich an meine Grenzen gekommen und habe mich zurückgezogen und war nur noch Immigrantin. Heute denke ich: Wir müssen bewusst als Schwarze und Weiße zusammenarbeiten, nur so können wir etwas verändern.«