„Vor Fünfundvierzig war das hier eine Waffenfabrik“, sagt der Hausmeister und weist den Weg über den großen Hof zum richtigen Aufzug. Oben, unter dem Dach eines der alten Fabrikgebäude, werden heute wieder Waffen hergestellt. Allerdings nur in Datenform und aus einer wesentlich weiter zurückliegenden Epoche: Schwerter, Keulen und Bögen konstruieren hier 3D-Artists für den Nachfolger des Rollenspiels Drakensang. Von diesem Titel des Entwicklerstudios Radon Labs, der vor einem halben Jahr veröffentlicht wurde, ging unlängst das 100.000 Exemplar über den Ladentisch. Dieser Tage läuft der Verkauf in Großbritannien und USA an. IGM schaute sich bei Radon Labs einmal genauer um.
Die Vorgeschichte des Studios begann nicht unter dem Dach, sondern in einem Keller noch vor dem Mauerfall im Erzgebirge. Drei Freunde arbeiteten mit DDR-Rechnern in ihrem „Labor“. Das wies eine hohe Belastung durch das radioaktive Edelgas Radon auf, was für einen Keller in der Region nicht unüblich war – in den Bergen in der Nähe wurde Uran gefördert. So kam das Studio lange Zeit später zu seinem heutigen Namen: Radon Labs.
Die besagten drei Freunde landeten Mitte der neunziger Jahre in Potsdam zum Studium. Das erste Projekt, damals noch unter Leitung eines ihrer Professoren und unter dem Firmennamen TerraTools, wurde mit keinem geringeren Publisher als Microsoft verwirklicht. „Urban Assault“ war ein Mischung aus Shooter und Strategiespiel. Es bekam gemischte Kritiken, aber erarbeitete sich eine treue Fangemeinde. Von der Erfahrung von damals profitiere man noch heute, meint André Blechschmidt. Der Betriebswirt, noch aus Jugendtagen mit den Dreien aus dem Erzgebirge bekannt, stieß nach der Gründung von Radon Labs 2001 dazu. Zusammen mit Bernd Beyreuther, der für den kreativen Bereich zuständig ist, führt er die Geschäfte. Microsoft habe damals mehr Leute das Projekt betreuen lassen, als auf Entwicklerseite gearbeitet hätten und habe so eine erstklassiges Projektmanagement ermöglicht. In der Zeit habe man gelernt, „dem Publisher zuzuhören“. Das sei sowieso unabdingbar: Wenn man zwei Jahre lang in der Entwicklung eines Spieles stecke, sei ein Blick und Kritik von außen unerlässlich, da man jegliche Objektivität verlieren würde.
Das Verhältnis zwischen Publisher und Entwickler sieht Blechschmidt prinzipiell nicht kritisch. Sie, als Radon Labs, hätten meist genug Freiraum, eigene Ideen einzubringen und umzusetzen. Publisher, beispielsweise Fernsehsender, die ein Spiel zu einer Serie möchten, kämen meist nur mit groben Vorgaben. Viel problematischer sei, vor allem für kleine Entwicklerstudios, die „absurden Businessmodelle“.
Bei Drakensang sei man selbst ein hohes Risiko eingegangen, denn Radon Labs trage nahezu paritätisch die Entwicklungskosten zusammen mit dem Publisher dtp – bei weit über 300.000 verkauften Exemplaren würde man wohl die Gewinnzone erreichen, rechnet Blechschmidt vor. So ein Modell sei aber unüblich, viel mehr sei es Usus, dass das Entwicklungsbudget als Vorschuss auf den Verkaufserlös gezahlt werde, als „Advances of Royalities“. Zwar trügen die Publisher dabei allein das Risiko, da bei einem Scheitern der Entwicklung der Vorschuss nicht zurückgezahlt werden müsse. Aber die erreichten auch viel früher den Breakeven, während die Entwickler noch mit ihrer Gewinnbeteiligung ihren Vorschuss zurückzahlen würden und damit de facto die gesamte Spielentwickung finanzierten. Wenn dann nicht sofort ein Folgeauftrag anstünde, müssten viele kleine Entwicklerstudios nach Fertigstellung des Titels wieder schließen oder zumindest einen Teil der eignen Leute entlassen.
Diese Erfahrung machte Radon Labs 2003 gleich im Anschluss an ihren ersten Titel, Project Nomad, ein Weltraumspiel. Kurzfristig war die Portierung des Titels auf die Xbox abgesetzt wurden. Ab diesem Zeitpunkt habe man auf Risikostreuung durch Parallelproduktion gesetzt. 2005 brachte man dann schon gleich fünf Titel auf den Markt, seitdem ist man immer mit mindestens zwei, drei Spielen jährlich dabei; insgesamt sind es nun fast 20 Titel. Darunter waren Lernspiele der bekannten Genius-Reihe und diverse „Zielgruppenspiele“, also Pferde- und Tierarztspiele, meist für das Nintendo DS. „Mittlerweile sei der DS tot“ – der Markt sei durch zu viele billige Produktionen übersättigt, führt Blechschmidt aus, der nicht nur wegen seiner Funktion bei Radon Labs den Spielemarkt im Auge hat, sondern auch als Vorsitzender des GAME-Entwicklerverbandes fungiert.
Die Weltwirtschaftskrise träfe zusammen mit einer Transitionsphase, die vor allem auch den Großen in der Branche zu schaffen machen würde. Während die Entwicklungskosten für Spiele explodierten und deren Verkaufspreise gestiegen seien, habe sich die Absatzbasis verringert: Von den Next-Gen Konsolen seien vielleicht 30 Millionen verkauft, vorher hat man allein für 120 Millionen PS2 entwickeln können.
Trotz der schwierigen Gesamtlage möchte Blechschmidt mit Radon Labs in den Bereich der Triple A-Titel aufsteigen. Dafür setzt man auf Rollenspiele, deren Entwicklungsaufwand man anfangs allerdings unterschätzt habe – während Shooter stark technologielastig seien, handele es sich bei derartigen Fantatsytiteln um wahre „Contentmonster“. Zwar sei das Online-Spiel World of Warcraft eine „Katastrophe“ für diesen Marktsektor. Denn dessen Spieler hätten keine Zeit mehr für andere Titel und kauften diese eben auch nicht. Trotzdem seien Titel, die auf „Pen&Paper“-Rollenspiele zurückgingen, nach wie vor gefragt. Blechschmidt selbst bewaffnet sich seit vielen Jahren regelmäßig im Freundeskreis mit Stift, Würfeln und Papier für „Das Schwarze Auge“, in dessen Spielwelt auch Drakensang angesiedelt ist. Insofern ist es wohl kein hohles Gerede, wenn sich Radon Labs, dass sich als größtes unabhängiges Entwicklerstudio Europas tituliert, auf eine „Leidenschaft für Spiele“ beruft, die jeder Mitarbeiter teilen würde.
Bei einem Rundgang über die Etage wird deutlich, dass die zahlreichen Reihen von Tischen, an denen meist junge Leute männlichen Geschlechts sitzen, letztlich digitale Werkbänke sind. Etwa die Hälfte der Mitarbeiter arbeitet an dem zweiten Teil von Drakensang, der kommendes Frühjahr erscheinen soll. An den ein oder zwei Monitoren pro Arbeitsplatz werden in Handarbeit digitale Produkte geschaffen. Eine moderne Form von Fabrikarbeit, in der zum Teil unter engen Vorgaben ohne große künstlerische Freiheit ein 3D-Gegenstand nach dem anderen gestaltet werden muss und in Fleißarbeit Level ausstaffiert werden.
Wolfgang Siebert bleibt vor einer Weltkarte stehen, außer in Afrika stecken in jedem Erdteil kleine Wimpel, in vielleicht insgesamt 40 Ländern. Die markieren, so erklärt der Business Development Manager, die Orte, von denen man bei Radon Labs weiß, dass dort die hauseigene Spielentwicklungssoftware Nebula 2 genutzt wird. Die bietet man kostenlos zum Download, als freie Software (Open Source) an. Einmal möchte man so kleine Entwicklerstudios unterstützen, aber auch den Nachwuchs fördern: Das Nebula-Framework wird gerne in Ausbildungseinrichtungen eingesetzt, und nicht selten bringen Bewerber bei Radon Labs eben Vorkenntnisse in Nebula mit. Auch gibt es für die Software eine Schnittstelle zum 3D-Programm Maya, dass oft bei Filmproduktion eingesetzt wird. Somit ist die Rekrutierung auch aus dieser Branche für Radon Labs recht einfach.
„Wir wachsen und wachsen“, sagt Siebert zufrieden, an sieben Spielen arbeite man derzeit, für nahezu alle Plattformen würde man entwickeln.
Deswegen steht schon wieder ein Umzug an. Der Platz für die zur Zeit neunzig Mitarbeiter reicht gerade noch, sechs weitere Stellen sind ausgeschrieben. In absehbarer Zeit wird man wohl bei 120 Beschäftigen anlangen. Also zieht man im Mai von Berlin-Treptow nach Mitte an den Alexanderplatz in größere Räumlichkeiten.
Siebert spricht von der Firmenphilosophie Radon Labs. Grundsätzlich setze man auf kleine beständige Projektteams – wer gut zusammenarbeitet, den lasse man zusammen. Mindestens zwei Leute beinhaltet so ein Team, nicht zuletzt um Betriebsblindheit entgegenzuwirken. Auch ließe man sich durch Produktionsverfahren der Automobilbranche inspirieren: So gelte für die Spiele in Sachen Qualitätskontrolle (Quality Assurance – QA) das Prinzip, dass ein Spielfeature erst dann wirklich fertig ist, wenn es exakt so funktioniert, wie es entworfen wurde. Gewacht wird darüber in Halle, Sachsen-Anhalt. Dort wurde vor einiger Zeit ein zweiter Standort von Radon Labs aufgebaut, der die QA leistet. Steht ein großer Titel vor der Veröffentlichung, werden auch schon mal Testspieler rund um die Uhr in 12-Stunden Schichten eingeteilt. Ansonsten halte man aber eine 40-Stunden-Woche ein, sonst würde man die Mitarbeiter verheizen, meint Siebert. Auch gebe es eine klare Überstundenregelung und als kleinen Anreiz noch die Auszeichnung „Mitarbeiter des Monats“, über die eine Runde von Projektleitern entscheidet – vielleicht ein kleiner Fingerzeig auf die DDR-Wurzeln des Unternehmens.