VORSPANN: Wird eine Gruppe oder eine Gesellschaft, die sich einmal solidarisch verhalten hat, dies automatisch wieder tun? Das Beispiel von zwei Überschwemmungskatastrophen in Indien – dem Tsunami im Dezember 2004 und der Überschwemmung im August 2008 in Bihar – zeigt, dass Solidarität immer wieder aufs Neue entstehen und hergestellt werden muss. Zudem hat sich in beiden Situationen gezeigt, dass Mechanismen von Ausgrenzung und Diskriminierung auch in Krisensituationen eine Rolle spielen.
Indische Medien berichteten im Oktober über gewalttätige Angriffe auf MigrantInnen aus dem nordöstlichen Bundesstaat Bihar in anderen Landesteilen. Seit der Überschwemmungskatastrophe im August diesen Jahres suchen viele Flutopfer aus Bihar in Metropolen wie Mumbai oder Delhi nach Arbeit und Einkommen. „Anstatt Solidarität in diesen Zeiten der Krise illustriert die Gewalt und das Schweigen der großen politischen Parteien eine kriminelle Abgestumpftheit gegenüber den Opfern“, meint dazu Gopal Krishna, Mitglied einer Untersuchungskommission zu den Ursachen für den Bruch der Eindeichungen des Flusses Kosi in Bihar. Die Gesellschaft im Allgemeinen sei zwar mitfühlend, doch fanatische Elemente in der Politik und die Trägheit der Regierungsorgane hätten eine hässliche und hoffnungslose Situation geschaffen.
Etwa ein Drittel der Fläche Bihars wurde im August überschwemmt, über 2.000 Dörfer versanken in den Wassermassen, 400.000 Menschen wurden obdachlos, ein großer Teil des Reis-, Weizen- und Gemüseanbaus vernichtet. Die Anzahl der Todesopfer liegt aber weit unter der Zahl der Opfer des Tsunami von 2004. Niemals zuvor in der jüngeren Vergangenheit Indiens haben jedoch auf einen Schlag mehr Menschen ihr Zuhause und ihren Lebensunterhalt verloren. Bihar ist einer der am dichtesten besiedelten Bundesstaaten Indiens. Rund 37 Millionen der insgesamt 90 Millionen Einwohner leben unterhalb der Armutsgrenze. Das jährliche Durchschnittseinkommen liegt bei gerade einmal 160 US-Dollar. Der Bundesstaat wurde zum Notstandsgebiet erklärt und die Zentralregierung und die indische Armee beteiligen sich an den Hilfsmaßnahmen. Nahezu ignoriert wurde das Ausmaß der Verwüstung allerdings von den meisten internationalen und selbst von nationalen Hilfsorganisationen.
Mittlerweile ist die Tragödie von den Titelblättern und Bildschirmen wieder verschwunden. Dass die Betroffenen zu den ärmsten Klassen Indiens gehören, mit Katastrophen jeglicher Art, der Gewalt durch die hinduistische Kastenordnung, einer permanenten Mangelernährung und der Angst vor bewaffneten Gruppen leben müssen – „das alles reicht sicherlich nicht aus, um News zu produzieren“, wie der indische Menschenrechtsaktivist Harsh Mander in der Tageszeitung „Hindustan Times“ vor Kurzem sarkastisch bemerkte.
Diskriminierung bei der Hilfe
„Leute aus dem Dorf sagten, dass meine Familie in einem Tempel Zuflucht gefunden hat, aber ich kann nicht zu ihnen gelangen. Die Regierung will keine Boote für ein Dalit-Dorf bereitstellen“, berichtet der 38-jährige Prithvi Chand Baswan am 2. September gegenüber Associated Press. Kasten und Patriarchat spielen auch in den Notunterkünften eine große Rolle: Angehörigen von sogenannten benachteiligten Kasten (Dalits), unverheirateten Frauen und alten Menschen werden Hilfsgüter verweigert. „Die Rettungsteams haben ihre Kastenloyalitäten und versuchen zuerst ihre eigenen Leute zu retten“, so Chandraban Prased, Journalist aus Neu-Delhi und selbst ein Dalit. Es wiederholt sich in diesen Tagen in Bihar, was von den Hilfsmaßnahmen nach dem Tsunami bekannt wurde.
Doch es gibt auch zivilgesellschaftliche Unterstützung: Auf Wohltätigkeitsveranstaltungen wird dazu aufgerufen, generös zu spenden und die kleineren Nichtregierungsorganisationen (NRO) haben ihre Hilfspakete geschnürt. Wie Gopal Krishna berichtet, gab es in den Krisengebieten durchaus auch Solidarität zwischen den Kastengruppen, aber „nur für eine kurze Zeitspanne“.
Ein entscheidender Unterschied zu 2004 besteht darin, dass damals die internationale und nationale Aufmerksamkeit über mehrere Wochen auf die Regionen der Zerstörung gerichtet war und spontane Gesten von Hilfe und materieller Unterstützung aus dem In- und Ausland in die betroffenen Gebiete strömten. Viele Spendenaktivitäten in Indien suggerierten Mitgefühl über Kasten- und andere soziale Grenzen hinweg. Selbst gesellschaftlich immer noch Ausgestoßene sammelten für die Flutopfer, wie das Beispiel von Leprakranken im südindischen Kanyakumari-Bezirk gezeigt hat. Ungezählte NRO und kleinere Gruppen beteiligten sich – mehr oder minder kompetent – an den Hilfsprogrammen. Unter den NRO gab es Bemühungen von Koordination und Zusammenarbeit. Schließlich schlossen sich auch indische Intellektuelle der These an, dass durch die „globale Katastrophe“ nun „die Welt enger zusammengerückt sei“.
Nur eine kurze Hoffnung
Für eine kurze Zeit keimte tatsächlich die Hoffnung auf, dass sich die indische Gesellschaft auf solidarischere Aushandlungsprozesse besinnen könnte. Die Sympathiebekundungen aus der indischen Gesellschaft ermutigten und irritierten zugleich. Es zeigte sich, dass viele solidarisch sein wollten, aber auch, dass es erst einer Katastrophe solchen Ausmaßes bedurfte, um die Sorge um die anderen und um die eigene Umwelt zum Ausdruck bringen zu können. Wenig kann Paul Sainath, einer der bekanntesten Kritiker des indischen Entwicklungsweges, diesem Prozess abgewinnen: „Die berechtigen Ansprüche der Menschen werden mittlerweile zu wohltätigen Gaben umgedeutet. Gesundheitsvorsorge, Zugang zu sauberem Wasser, Abwasser- und Abfallversorgung, Schulen – all dies mag es heute aufgrund unserer Großzügigkeit geben, nicht aber deshalb, weil Menschen einen Anspruch darauf haben“, kritisiert Sainath.
Von den großen Worten, mit denen die internationale und nationale Solidarität beschworen wurde, ist nicht viel übrig geblieben. Der Tsunami verdeutlichte unterm Strich die Ausgrenzungen über die Kasten- und Klassenzugehörigkeit, das Missverhältnis beim Zugang zu Bildungs- und ökonomischen Ressourcen sowie der politischen Macht. Ein gemeinsamer politischer Aufbruch der NRO hat nicht stattgefunden.
Solidarität über Kastengrenzen
„Solidarität ist ein gute Idee, aber sie ist auf eine Menge persönlicher Einsatzbereitschaft angewiesen“, stellte Satya Sivaraman, Autor und Filmemacher aus Indien, im Mai 2005 in Bezug auf die Tsunami-Hilfe fest. Vor dem Hintergrund ihres Kampfes um Anerkennung als gleichberechtigte StaatsbürgerInnen zeigten Dalits und ihre Organisationen nach dem Tsunami eine neue Form der Solidarität und boten ihre Ressourcen allen Gemeinschaften gleichermaßen an. „Dass unser Hilfeangebot angenommen wurde, war für alle eine wirklich wichtige Erfahrung“, resümiert Frank Viswanath von der Dalit-Organisation „Community and Rural Development Society“ (CARDS) aus dem Bundesstaat Andhra Pradesh. Durch die Aktivitäten ergaben sich zudem Vernetzungen mit anderen sozialen Organisationen, die bis heute Bestand haben.
Rund vier Jahre nach dem Tsunami ist die konkrete Umsetzung des Anspruchs von CARDS in der Praxis zu besichtigen: Beim Besuch eines größeren Dorfes, einige Kilometer von der Küste Andhra Pradeshs entfernt im Landesinneren gelegen, fällt zuerst nicht auf, dass die Häuser hier neueren Datums sind. „Bevor wir angefangen haben zu bauen, wurden Versammlungen organisiert, auf denen alle Betroffenen nach ihrer Tradition des Wohnens befragt wurden, nach ihren Vorstellungen der Dorfgestaltung und den Wünschen nach Dorfentwicklungsprogrammen“, erklärt Viswanath. Herausgekommen sind den traditionellen Bedürfnissen der verschiedenen Gemeinschaften entsprechende, baulich unterschiedliche Wohnhäuser, die von den DorfbewohnerInnen selbst errichtet wurden, sowie ein zentrales Gemeindehaus. Die Kastengrenzen wurden dadurch nicht aufgehoben, aber es hat sich etwas im Bewusstsein der Menschen getan.
In Indien ging und geht es vielen sozialen Bewegungen und NRO über die akuten Probleme hinaus noch um mehr: Ziel ist ein sozialer Wandel in allen Bereichen. Die politischen Aushandlungsprozesse werden jedoch durch weitreichende, die gesamte Gesellschaft durchlaufende Spaltungen erschwert. Die Akteure bleiben eingebettet in ihren jeweiligen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kontext. Dieser hat erhebliche Auswirkungen darauf, wie sie vom Staat und von anderen gesellschaftlichen Gruppen behandelt werden – selbst in Zeiten, in denen National- und Menschlichkeitssymbolik als Identifikationsflächen medial aufgeladen werden, wie bei der Katastrophe in Bihar oder, in viel stärkerem Maße, beim Tsunami. Wird realisiert, dass Vielfalt kein Hindernis für Gleichheit und Freiheit darstellt, werden sich für Bewegungen, Organisationen und den Einzelnen womöglich neue Wege eröffnen, sich gesellschaftlich solidarisch zu verhalten.