Angkar hat die vielen Augen der Ananas

Die juristische Aufarbeitung der Herrschaft der Roten Khmer in Kambodscha (1975-79) vor dem internationalen Gericht in Phnom Penh (Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia/ECCC) hat begonnen. Vor rund zehn Jahren hatte die kambodschanische Regierung die Hilfe der UN erbeten, um diejenigen vor Gericht zu bringen, „die unter dem Regime der Roten Khmer für Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich waren“. Dabei wurde das Ausmaß der Verbrechen erst nach dem Einmarsch vietnamesischer Truppen in Kambodscha (Dezember 1978) bekannt. Unabhängigen BeobachterInnen und JournalistInnen war lange der Zugang in das Land versperrt, die Berichte über Gräueltaten in den westlichen Medien politisch gefärbt und nicht nachprüfbar.

Die maßgebliche rechtliche Grundlage für die ECCC bildet das im August 2007 in Kraft getretene Code of Criminal Procedure of Cambodia (CPC). In einigen Aspekten sind die Kammern mit anderen internationalen Gerichten vergleichbar, bei denen ebenfalls Massenverbrechen verhandelt wurden. Die erstmalige Beteiligung von zahlreichen Opfern als NebenklägerInnen mit vollen prozessualen Rechten in einem internationalisierten Strafgericht stellt, laut Silke Studzinsky, „eine ungeheure Herausforderung dar“. „Sollte dieses experimentelle Projekt gelingen“, so die Berliner Anwältin, die momentan am ECCC arbeitet, „könnte Kambodscha eine Vorreiterrolle für künftige internationalisierte und internationale Tribunale spielen, in denen Massenverbrechen von großem Ausmaß verhandelt werden.“ Nach der Zusage eines Etats von 53 Mio. US-Dollar durch die UN wurden am 18. Juli 2007 die Ermittlungsverfahren eröffnet.

Das Internationale Tribunal: ein experimentelles Projekt

Die „kambodschanische Revolution“ (die Periode von 1970-1979) verstört auch heute noch aus vielen Gründen, am meisten wohl durch ihre kaum fassbare Zerstörungswut gegenüber menschlichem Leben. Die Anzahl der Todesopfer des knapp vierjährigen Regimes werden auf 1,3 bis 3,3 Millionen beziffert (je nach Schätzung und Seriosität der Untersuchungen; verlässliche Zahlen über die Bevölkerungsgröße Kambodschas 1975 sind nicht vorhanden), wobei allein 600.000 Menschen ermordet worden sind.

An der Spitze des „Demokratischen Kampuchea“ stand Saloth Sar, besser bekannt unter dem Namen Pol Pot. Er wie auch andere führende Funktionäre orientierten sich an der chinesischen Kulturrevolution, ein Parteiprogramm existierte jedoch nicht. Kambodscha sollte in einen autarken kommunistisch-maoistischen Bauernstaat verwandelt werden, die Rückständigkeit und Zerstörung der landwirtschaftlichen Nutzflächen, hauptsächlich verursacht durch die Flächenbombardements der US-Streitkräfte, sollte durch eine zeitweise Abkoppelung vom Weltmarkt, eine Erhöhung der Reisproduktion (um das Dreifache) und den Ausbau der dafür erforderlichen Bewässerungsanlagen überwunden werden. Dieser rigorosen Vorgabe fielen innerhalb weniger Monate Tausende Menschen durch Hunger, Erschöpfung und Krankheiten zum Opfer.

Alles Städtische und Intellektuelle sollte ausgerottet werden, vor allem die Stadtbevölkerung war bevorzugtes Ziel von Denunziation und Erniedrigung. Nach den Vertreibungs- und Umsiedlungsaktionen und dem Verlust ihres persönlichen Eigentums wurden die Menschen in schwarze Einheitskleidung gesteckt. Für viele bedeuteten der Fußmarsch in die landwirtschaftlichen Kooperativen und die harten Arbeitseinsätze in der Landwirtschaft oder beim manuellen Errichten von Dämmen und Bewässerungsanlagen den sicheren Tod.

Arbeiten für „Angkar“ (in Khmer: „die Organisation“), darauf schien sich das Leben zu reduzieren. Wer sich dagegen stellte, wurde zu „Schulungszwecken“ in eines der Foltergefängnisse verschleppt oder sofort umgebracht. Die Agenda des „klassenlosen Bauernstaates“ war so rigoros nivellierend, dass Nummern die Personennamen ersetzen sollten. Geld und sämtliches Privateigentum wurden abgeschafft, Schulen, Hochschulen und Bibliotheken geschlossen. Die lesen und schreiben konnten, wurden per se als Spione abwechselnd des KGB, der USA oder Vietnams verdächtigt.

Sogar der Haarschnitt wurde vereinheitlicht. Religionsausübung war genauso untersagt, wie es Familien, traditionell die Überlebensstruktur in Kambodscha, und persönliche Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und Eheleuten nicht mehr geben sollte. Zum Zwecke der Kinderproduktion wurden Frauen und Männer zwangsverheiratet, abzulehnen war nicht möglich. Aus all dem resultierte eine weitgehende Zerrüttung der Orientierung und der gewohnten Sicherheiten.

Verwunderlich ist, dass die Roten Khmer davon ausgingen, sie könnten mit dieser Politik unter denen, in deren Namen die Revolution stattfinden sollte – die bäuerliche Gesellschaft, die 1975 zwischen 85-90 Prozent der kambodschanischen Bevölkerung ausmachte – ideologische Unterstützung finden. Im Nachhinein gesehen beruhten ihre Vorstellungen auf einer verzerrten Wahrnehmung des „einfachen“ Lebens, eines kaum zu begreifenden Romantizismus von einer genügsamen bäuerlichen Lebensweise und Arbeitsethik.

Als Erklärung für die Unterstützung der Revolution in der Zeit des Bürgerkrieges durch Teile der kleinbäuerlichen Bevölkerungsgruppen und der verarmten Landlosen wird oft genannt, dass mit Prinz Norodom Sihanouk, der sich 1970 zu einer Volksallianz (National United Front of Kampuchea) mit den Roten Khmer entschloss, die Hoffnung verbunden wurde, die alte Vorkriegsordnung mit ihm als Staatsoberhaupt könne wieder hergestellt werden. Welche Bedeutung der anti-imperialistischen und nationalistischen Rhetorik bei der Mobilisierung nach Beginn der US-Flächenbombardements zukommt, ist meines Wissens bis heute nicht hinreichend erforscht.

Je größer jedoch die Ablehnung ihrer Ideologie wurde, desto rücksichtsloser griffen sie zu gewaltsamen Rekrutierungsmaßnahmen, besonders nachdem „die Organisation“ die Kontrolle über die Allianz besaß und begann, systematisch das Königshaus zu diffamieren. Der anfängliche Enthusiasmus für die Revolution in der Bevölkerung schwächte sich dadurch zunehmend ab.

Die Journalisten Heinz Kotte und Rüdiger Siebert sehen das Leitmotiv der Politik und des persönlichen Verhaltens der Führungskader der Roten Khmer in dem „kambodschanischen Trauma der bedrohten Existenz des Landes“ … verbunden mit der Fixierung auf die einstige Größe Angkors und der Wahnvorstellung, die Geschichte zurückdrehen und die Machtfülle des verlorenen Reiches aus eigener Kraft wiedererlangen zu können. Der Feind schlechthin ist Vietnam, die Kommunistische Partei, der Staat und das gesamte Volk, in Kambodscha abfällig „Youn“ („Wilde“) genannt. Sie dienen als Sündenböcke für alle selbstverschuldeten Desaster. (1) Die blutigen Grenzkonflikte waren der Anlass für den vietnamesischen Einmarsch 1979 und die Besetzung Kambodschas.

Alles Städtische sollte ausgerottet werden

Fünf Mitglieder der damaligen Staatsführung befinden sich seit 2007 in Untersuchungshaft. Gegen Kaing Guek Eav (alias Duch) ist die Eröffnung des Prozesses für Oktober angekündigt. Er wird angeklagt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Verletzung der Genfer Konventionen und Mord und Totschlag nach kambodschanischem Strafgesetz. Unter seiner Leitung wurden in dem im Süden Phnom Penhs gelegenen Folterlager Tuol Sleng (S-21-Lager) und Cheung Ek („Killing Fields“) mindestens 12.380 Männer, Frauen und Kinder verhört, gefoltert und getötet. In allen Zonen des Verwaltungssystems der Roten Khmer gab es die Todesgefängnisse („Killing Fields“) und bis zu 20.000 Massengräber (Schätzungen).

Die Ermittlungen gegen Nuon Chea (als „Bruder Nr. 2“ engster Vertrauter Pol Pots in der Parteiführung), gegen Ieng Sary, (den früheren Außenminister, der sich 1996 mit 1.500 KämpferInnen von Pol Pot absetzt und von seinem Ex-Mitstreiter Hun Sen, der seit 1985 bis heute Premierminister Kambodschas ist, amnestiert wurde), gegen Ieng Thirith (die ehemalige Sozialministerin und ZK-Mitglied) und gegen den früheren Staatspräsidenten Khieu Samphan dauern noch an.

Mitverantwortung des Auslands bleibt außen vor

Allen Beschuldigten wird vorgeworfen, Zwangsevakuierungen, Massentötungen, Zwangsarbeit, Folter, willkürliche Verhaftungen und Versklavung organisiert und durchgeführt zu haben. Genozid gegen buddhistische Mönche, Cham Muslime und Vietnamesen wurden bislang jedoch nicht in die Haftbefehle aufgenommen. Ermittelt wurde bislang auch nicht wegen sexueller Gewalt. Ein Schritt, mit dem das Schweigen über sexualisierte Gewalt im Rahmen der Begehung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit und möglicherweise auch Genozid gebrochen werden könnte, ist der Antrag einer 68-jährigen Transgender auf Zulassung als Nebenklägerin vor Gericht. Som Southevy ist am 3. September vor die nationale und internationale Presse getreten und hat – zumindest in Kambodscha selbst – damit für Aufmerksamkeit gesorgt.

Die Einrichtung internationaler Gerichte stellte in der Vergangenheit eine der bevorzugten Antworten auf Kriegs- und Massenverbrechen dar. Es zeigte sich jedoch bald, dass es keine direkte Verbindung zwischen Gerichtsprozessen und gesellschaftlicher Aussöhnung und Aufarbeitung der Geschichte gibt. Für Kambodscha bedeutet es gleichwohl, dass die Akzeptanz des Gerichts in der kambodschanischen öffentlichen Sphäre zuzunehmen scheint und in Verbindung mit der Forderung nach Gerechtigkeit für die Betroffenen gebracht wird.

Nationale und internationale NGOs berichten von dem zunehmenden Interesse der Dorfbevölkerungen an dem Gericht und seinen Zielen. Die von Organisationen wie Youth for Peace seit 2007 durchgeführten sogenannten Outreach-Programme oder Lernfahrten zu Massengräbern und Killing Fields werden von immer mehr, vor allem jungen Leuten wahrgenommen. Ein weiterer Hinweis für die Akzeptanz des Gerichtes stellt die wachsende Bereitschaft von Überlebenden dar, sich als ZeugInnen zur Verfügung zu stellen und als NebenklägerInnen bei Gericht aufzutreten. Andererseits wird u.a. auch kritisiert, dass keine Finanzierung außergerichtlicher Maßnahmen vorgesehen ist, um eine wirkliche Partizipation der kambodschanischen Bevölkerung zu gewährleisten.

Auch die besonderen Umstände nach 1979 erlauben es, zumindest Zweifel an den Prozessen zu hegen: Die Roten Khmer, in den Zeiten des Kalten Krieges bis 1989 als Exilregierung von den UN anerkannt, kapitulierten endgültig erst 1998. Ieng Sary, gemeinsam mit dem 1998 verstorbenen Pol Pot im Jahr 1979 in Abwesenheit wegen Genozid zum Tode verurteilt (das Verfahren gegen ihn und Pol Pot wurde wenige Monate nach dem Einmarsch Vietnams in Kambodscha durchgeführt und wie auch die von Vietnam gestützte „Volksregierung“ international nicht anerkannt, es droht ihm jedoch damit keine Anklage wegen Völkermordes vor dem ECCC), wurde 1996 von der Regierung begnadigt.

Khieu Samphan und Nuon Chea stellten sich 1998 den Behörden, andere Verantwortliche des Regimes unter Pol Pot leben weiterhin unbehelligt. 2003 erklärte Khieu Samphan in einem sechsseitigen Brief, er erkenne die Tatsache eines Genozids in der Zeit der Herrschaft der Roten Khmer zwar an, habe davon jedoch nichts gewusst. Alle Beschuldigten vor dem ECCC verweisen darauf, dass allein Pol Pot für die Entscheidungen von „Angkar“ verantwortlich gewesen sei. Auch wird – wie es bis jetzt aussieht – nicht über die Mitverantwortung ausländischer Staaten vor und nach dem „Demokratischen Kampuchea“ verhandelt werden, so dass weder die Regierung der USA, noch die chinesische, thailändische u.a. ihre Rolle erklären müssen, die sie in Kambodscha jahrzehntelang gespielt haben.

Jürgen Weber

Anmerkungen:

*) Ein allgegenwärtiger Slogan im „Demokratischen Kampuchea“, dem offiziellen Staatsnamen. Angkar (in Khmer: die Organisation), das oberste Führungsorgan des Regimes, sieht und hört alles, auch die Gedanken.

2) Heinz Kotte/Rüdiger Siebert: Der Traum von Angkor. Bad Honnef 2000, S. 134

3) Die am Gericht eingerichtete Victims Unit erreichte mit Stand von Anfang September 2008 insgesamt 1.800 Beschwerden und Anträge auf Zulassung, um als NebenklägerInnen bei Gericht aussagen zu können.