Eine junge Frau hockt in einem Beet mit lila Stiefmütterchen und hält zwei der Blumen in ihren Händen. Sie hat lange, blonde Haare und lächelt den Betrachter an. „Umweltschutz ist Heimatschutz“ steht darüber – in Runenschrift. Unten eine eindeutig rechte Internetadresse. Franz von der Antifaschistischen Aktion Hohenschönhausen holt einen Schlüssel aus seiner Jeans und kratzt sorgfältig am Laternenmast, bis der Aufkleber weg ist. „Selbst die Bürgermeisterin ruft dazu auf, das abzumachen“, sagt er. Mehrere Dutzend Male greift er täglich zum Schlüssel. Die Laternenmasten in der Weitlingstraße sind bereits von Aufkleberresten übersät.
Wönnichstraße 1. Franz zeigt auf eine gelbe Baracke mit zugemauerten Fenstern. „Inh. M. Varschen“ steht auf dem Briefkasten. Hierher hätten sich die Rechten zurückgezogen, seit es die einschlägige Kneipe Kiste in der Weitlingstraße nicht mehr gebe, erklärt er. Die Gruppe „Spreewacht“ organisiere in der Wönnichstraße regelmäßig Kneipenabende und Konzerte. Gelegentlich träfen sich auch Kameraden der 2005 verbotenen „Kameradschaft Tor“ in dem bunkerähnlichen Gebäude. Einige der ehemaligen „Kameraden“ agierten immer noch im Hintergrund. Björn Wild, damals Führungsfigur der Kameradschaft Tor, koordiniere zurzeit die Neonazi-Jugendarbeit und mime auf Demos den Befehlsgeber, weiß Franz.
In der Weitlingstraße läuft der Antifa-Aktivist regelmäßig Kameraden aus dem „Nationalen Widerstand“ über den Weg. Kein Wunder: In den Seitenstraßen der Weitlingstraße haben sie ihre Wohnungen, und sie haben es geschafft, einige Jugendliche für ihre Zwecke zu gewinnen. „Da sind zum Beispiel zwei Kandidaten“, ruft er und zeigt auf zwei Schwarzgekleidete auf dem Weg zum Supermarkt. „Der eine ist Alexander Basil“ – ein „Nachrücker“. Er selbst sei auch schon angegriffen worden, sagt er, aber meist bleibe es dabei, dass die Rechten hektisch telefonierten, um Verstärkung zu holen. Für ihn dann ein Zeichen, zu verschwinden.
Letztens, als Franz gerade Aufkleber abkratzte, sprach ihn ein Passant an: Er würde sich immer Paketaufkleber von der Post besorgen und die einfach drüberkleben, das sei viel einfacher als Abkratzen. Ob Franz das nicht auch mal probieren wolle.
Es sind solche Erlebnisse, die ein anderes Bild vom Lichtenberger Weitlingkiez zeichnen als das eines durch und durch rechten Bezirks. Angefangen bei der Bürgermeisterin Christina Emmerich (Linke) bis zu vielen Gewerbetreibenden und BewohnerInnen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass etwas gegen die rechten Gruppen und Neonazis im Kiez unternommen werden muss. Seit vergangenem Jahr läuft der Lokale Aktionsplan Lichtenberg (LAP). Vor wenigen Wochen wurde in der Bodo-Uhse-Bücherei eine interkulturelle Mediathek eingeweiht, es gab eine Jugendkonferenz gegen Rechtsextremismus und einen eigenen Raum für Veranstaltungen gegen rechts.
Andreas Wächter koordiniert die Umsetzung des Lokalen Aktionsplans in Lichtenberg. 80.000 Euro hat er für Projekte zur Verfügung. Wächter ist Mitte 30 und macht einen dynamischen Eindruck. Sein Büro befindet sich in der „KultSchule“, in einem Plattenbau, keine zehn Minuten Fußweg von der Weitlingstraße entfernt. Den größten Teil seines Lebens wohnt er bereits in Lichtenberg und hat sich in seinem Studium mit Rechtsextremismus beschäftigt. Andreas Wächter formuliert vorsichtig, wenn er über seine Ziele spricht: „Man muss sensibilisieren. Es geht um Einstellungen, aber es gibt Lichtblicke“, sagt er, „es sind kleine Schritte, die hier gemacht werden“.
Das Programm setzt bewusst nicht bei gefestigten Rechten an, sondern versucht, in Schulen und bei BewohnerInnen präventiv zu wirken. „Mit rechten Kadern läuft gar nichts“, erklärt Wächter, dafür brauche man wesentlich mehr Zeit. Seit rund eineinhalb Jahren seien die Rechtsextremen Thema in den Bezirksgremien, Gewerbetreibende organisierten sich und auch migrantische Gruppen brächten sich vermehrt ein. „Die Neonazis treten im Kiez hauptsächlich durch Propagandaschmierereien in Erscheinung“, sagt Wächter. Seit der Bezirk der rechten Kneipe Kiste in der Weitlingstraße die Konzession entzogen habe, gebe es auch weniger Übergriffe.
Sibel Yücel kann das allerdings nicht bestätigen. Sie hat lange, braune Haare, trägt eine große Brille und steht hinter der Theke des türkischen Lebensmittelladens in der Weitlingstraße. Frische Oliven, Schafskäse, Pide und Gemüse gibt es hier. „Es wird gar nichts besser“, sagt sie, „in der Straße ist es für Ausländer sehr schwer.“ Fast jede Woche hätten sie und ihr Mann Probleme mit Rechten. „Die kommen rein und nehmen einfach irgendwas mit und werfen es auf die Straße. Wenn ich mich beschwere, rufen sie: ,Du Kanake, geh hin, wo du herkommst!‘ “ Vor zwei Jahren hätten Neonazis ihren Mann sogar verprügelt, seine Brille zertrümmert und ihm mehrere Prellungen zugefügt, erzählt sie. An das Datum des Übergriffs, 22. Februar 2006, kann sie sich so genau erinnern wie an die Worte eines der herbeigerufenen Polizisten: Sie sollten ihren Laden doch anderswo aufmachen, wenn es ihnen hier nicht gefalle, habe der Polizist damals zu ihnen gesagt. Solche Sätze vergisst man als Migrant in Deutschland nicht – auch nicht, wenn man schon 30 Jahre hier lebt und weiß, dass es auch viele hilfsbereite deutsche Mitbürger gibt, was Yücel betont.
Die Personalbasis der organisierten Neonazis in Lichtenberg ist indes dünn geworden. Als die Antifa Hohenschönhausen vor zwei Wochen beim „Zug der Erinnerung“ am Bahnhof Lichtenberg eine Kundgebung abhielt, konnten die Rechten gerade mal sechs Personen mobilisieren, die aus einem gegenüber liegenden Internetcafé fotografierten. Die NPD-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) kriegt bei Veranstaltungen auch kaum mehr Menschen auf die Straße. „Zu der mittlerweile praktizierten Methode der Wortergreifung bei demokratischen Veranstaltungen sind die Lichtenberger Rechten intellektuell gar nicht in der Lage“, erklärt Andreas Wächter von der Koordinierungsstelle die Schwäche der örtlichen Neonazi-Szene. Es bleibe bei Drohgebärden.
„Das ist kein rechter Kiez“, sagt Sito Kranke. Er trägt Bart und steht rauchend in seiner schwarzen Regenkleidung vor dem Büro der Kiezzeitung Neli-Post in der Margaretenstraße. Kranke ist Frührentner und seit 25 Jahren im Kiez ehrenamtlich aktiv. In vielen Gremien ist er präsent, nimmt am Stammtisch der Gewerbetreibenden teil und ist Mitglied der Stadtbild-Agentur, eines gemeinnützigen Vereins, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Lebensqualität im Kiez zu verbessern. Sito Kranke kennt den Kiez, seit er über den Küchentisch gucken kann, wie er sagt, und es tut ihm weh, was die Medien über Lichtenberg berichten. Kranke sagt Sätze wie: „Die rechten Strukturen existieren, die wohnen hier, das weiß man. Die Kameradschaft Tor, die gibt es, das steht auch fest. Aber sonst ist das ein Kiez wie jeder andere.“
In den letzten Jahren ist Kranke jedoch zu einem Vorkämpfer für das Image des Weitlingkiezes geworden. Es müsse doch auch mal registriert werden, dass sich viele BewohnerInnen gegen rechts engagierten, findet er. Vor allem CDU und FDP sollten sich in der BVV allerdings viel deutlicher gegen die NPD positionieren. „Die habe ich noch nie bei einer Kundgebung gegen rechts gesehen“, betont Kranke und schwingt sich auf sein „Dienstfahrzeug“. Ein Elektrofahrrad, das er von Gewerbetreibenden im Kiez geschenkt bekommen hat. „Damit fahre ich auch schon mal bis zum Roten Rathaus, wenn es nötig ist.“ Bald will er dort einen offenen Brief der Gewerbetreibenden aus der Weitlingstraße an Innensenator Ehrhart Körting abgeben. „Wir verwahren uns darin dagegen, dass hier ständig Demos der Rechten abgehalten werden“, sagt er und strampelt davon.