African National Congress vor der Wahl: Armut bekämpfen Fotos: Haidy Damm |
Zehn Jahre nach Ende der Apartheid kämpft Südafrika weiter mit den Folgen: Arbeitslosigkeit, Armut, Aids und Gewalt. Das Projekt Children in Crisis bietet psychotherapeutische Hilfe an.
Das Tygerberg Hospital im Norden Kapstadts ist ein klassischer Apartheidsbau. Zwei identische Gebäude trennten hier die Kranken nach Hautfarbe. Vor dem Eingang stehen Patienten in der Sonne, rauchen, tauschen Neuigkeiten mit ihrem Besuch aus oder dösen auf den Bänken. Im Keller liegt heute die Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie. Es riecht nach Kantine und Desinfektionsmitteln. „Irgendwann bekommen auch wir schöne, helle Räume“, hofft Dr. Kerstin Stellermann, Ärztin in Weiterbildung zur Psychiaterin und Psychotherapeutin des Kindes- und Jugendalters im Projekt „Children in Crisis“. Innen gibt es bunte Bilder an den Wänden, einen freundlichen Spiel- und Therapieraum, ansonsten beige, triste Krankenhauswände.
„Tygerberg ist einer von drei Standorten des Projektes“, erklärt die 30-jährige Ärztin aus Deutschland. Die beiden anderen befinden sich an der University of Western Cape und in Langa, dem ältesten schwarzen Township im Western Cape. Zwischen 1921 und 1927 für 80 000 Industriearbeiter erbaut, wohnen heute rund 250 000 Menschen in Langa, Tendenz steigend. Die Erwerbslosigkeit liegt offiziell bei 40 Prozent, der informelle Arbeitsmarkt blüht. Direkt an der Autobahn, der einzigen Zufahrt, bestimmen noch kleine Steinhäuser das Straßenbild. Später werden diese abgelöst von verschachtelten Wellblechhütten, auf deren Höfen Frauen am offenen Feuer kochen.
Wichtig sind kurze Wege
Das Community Center Guga S’Thebe am Eingang zum Township strahlt in vollen Farben, im Hof zieren Mosaike Tische und Wände. Im oberen Stockwerk befindet sich das Büro von „Children in Crisis“. Außerdem gibt es Platz für Gruppen- und Einzeltherapien. Besonders wichtig: Das Projekt arbeitet vor Ort. Weite Wege für die Familien erschweren ansonsten oft die Arbeit der Therapeutinnen. „Manchmal habe ich acht Termine, von denen dann vier ausfallen, weil es regnet und die Kinder keine Regenkleidung haben oder der Weg in die Klinik zu teuer ist“, berichtet Stellermann. „Gleichzeitig ist es oft schwer, die Familien zu erreichen, weil sie beispielsweise die Telefonrechnung nicht bezahlen konnten.“ So sind es häufig die kleinen Dinge, die zum großen Hindernis werden.
Der 13-jährige L. wird von seinen Großeltern ins Tygerberger Hospital gebracht. L. wohnt seit kurzem bei ihnen, nachdem er versucht hat, sich umzubringen. Jetzt geht er wieder zur Schule, wirkt engagiert und erzählt stolz, dass er schon ein wenig Afrikaans gelernt hat – die Sprache, die in seiner neuen Umgebung gesprochen wird, während seine Muttersprache Zulu ist. Doch das Zusammenleben ist nicht leicht: L. streitet oft mit seiner älteren Schwester, die seit ihrer Geburt bei den Großeltern lebt, er will abends mit anderen Jungen durch die Straßen ziehen. Wegen seiner Albträume hat er in den ersten Wochen vor dem Bett seiner Großeltern geschlafen.
Die Träume spiegeln seine Lebensgeschichte wider: Aufgewachsen in den Armenvierteln Sowetos, lebt er mit seiner Mutter und seinen Tanten auf engem Raum. Die Mutter arbeitet als Krankenschwester. Der Vater hat keine feste Arbeit, wohnt nicht bei ihnen. Die damals 20-Jährige will auch dieses zweite Kind nicht und gibt ihren Sohn kurz nach der Geburt im Krankenhaus ab. Erst nach einigen Tagen holen ihn die Tanten dort ab. Als er älter wird, kümmern sie sich immer weniger um ihn. Er schläft, wo gerade Platz ist. Seine Mutter trinkt, ist oft nicht zu Hause. Sie infiziert sich mit HIV, wird bettlägerig. L. pflegt sie, versorgt seine inzwischen 34-jährige Mutter mit Essen. Als sie stirbt, versucht der Zehnjährige noch zwei Tage lang, ihr Essen einzuflößen. Nach ihrem Tod zieht er mit anderen Jungen durch die Straßen, stiehlt, nimmt Drogen. Nur selten lässt er sich bei seinen Tanten blicken. Nach einigen Monaten finden ihn Nachbarn, als er versucht, sich zu erhängen. Sie schalten die Großeltern ein, die den Jungen zu sich nehmen.
Seine Angstzustände, Albträume und Phasen, in denen er völlig abwesend ist, bereiten ihnen Sorgen. „Seine Großeltern sind zum Glück motiviert, ihn regelmäßig zu uns zu bringen“, sagt Kerstin Stellermann. Doch als sie per Telefon einen festen Termin anbieten will, ist die Handynummer nicht mehr aktiviert. „Ich habe jetzt einen Brief geschrieben und kann nur abwarten, was passiert. Das ist eben die spezifische Situation hier in Südafrika.“ Hinzu komme, dass die drei Standorte des Projektes auch wichtig seien, um unterschiedliche Kinder zu erreichen.
Auch zehn Jahre nach Ende der Apartheid sei es nicht sicher für eine „Farbige“ (Coloured), in ein schwarzes Township zu gehen. Umgekehrt könnten es sich die Kinder der Schwarzen meist nicht leisten, bis nach Tygerberg zu fahren.
Konzentriert malt eine Schülerin der Tembani School ihre Familie. | |
Kinder gerieten aus dem Blick
Die Situation in den Townships ist noch immer von Gewalt geprägt: Die Ermordung von Familienmitgliedern, sexueller Missbrauch, Vergewaltigung sind Erfahrungen, die den Alltag der Kinder prägen. „In den ersten Jahren meiner Arbeit hier habe ich mich oft überfordert gefühlt“, erinnert sich Dr. Sue Hawkridge, Leiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Tygerberg. „Es ist hart, in einem Gesundheitssystem zu arbeiten, das so komplett unterfinanziert ist. Aber mit dem Alter lernt man, neben dem Weg zu tanzen“, sagt sie lächelnd.
Die Kooperation mit Children in Crisis ist Teil dieses Tanzes. Durch die Finanzierung der Steffi-Graf-Stiftung „Children For Tomorrow“ und die Zusammenarbeit mit der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf hat sich das Projekt seit 1999 stetig ausgeweitet. „Begonnen haben wir 1997 mit einem kleinen Kreis“, erinnert sich Umesh Bawa. „Die politische Situation war vielversprechend, es gab viel Bewegung, aber wenige Angebote für Kinder.“ Der Diplom-Psychologe und Dozent an der University of Western Cape ist die treibende Kraft hinter dem Projekt. Nachdem er zunächst hauptsächlich mit Folteropfern des Apartheidregimes gearbeitet hatte, richtete sich seitdem sein Fokus auf die Kinder. „Die Erwachsenen hatten durch die veränderte Situation plötzlich mehr Unterstützung. Wer dabei aus dem Blick geriet, waren die Kinder und Jugendlichen, die in der zweiten Generation ebenso den Folgen ausgesetzt waren.“
Psychische Auffälligkeiten sind bei den direkt Betroffenen, aber auch bei den Heranwachsenden häufig: Alkohol- und Drogenmissbrauch, Depressionen und Ängste. Die Möglichkeit kostenfreier psychotherapeutischer Hilfe ist für Umesh Bawa dabei nur ein Teil des Ganzen: „Wenn ich arm bin, keine Bildungsmöglichkeiten habe, meine Familie nicht ernähren kann, dann bedeuten mir die ganzen politischen Rechte überhaupt nichts. Der Kampf um Menschenrechte bedeutet auch Nahrung, sauberes Trinkwasser, Bildung und freie Gesundheitsversorgung. Children in Crisis ist ein Teil dieses Kampfes.“
Eine wichtige Vermittlungsrolle für das Projekt übernehmen neben Ärzten und Sozialen Diensten die Schulen. In Langa arbeitet das Projekt mit zwei Grundschulen eng zusammen. Den Sozialarbeiterinnen und Lehrerinnen kommt hier die Aufgabe zu, bei auffälligen Kindern eine „Vordiagnose“ zu erstellen. „Unsere Schülerinnen und Schüler wachsen in einer Umgebung der Gewalt auf“, sagt Pam Basse, Lehrerin an der Zimasa Primary School. Sie erinnert sich an einen alltäglichen Fall: „Eine Schülerin hat ihren Vater und ihren Onkel durch Schießereien verloren. Dann ist sie selbst in einen Schusswechsel geraten. Ich weiß oft nicht, wie wir solche Situationen auffangen können.“
Joyce Ngezana von der Tembani Primary School berichtet von einer Schülerin, die sie an das Projekt vermittelt hat: „Das Mädchen hatte sich, nachdem sie von einem Nachbarn vergewaltigt worden war, einem Lehrer anvertraut. Er hat sie an mich weitervermittelt.“ Nach und nach setzte die Sozialpädagogin das Puzzle zusammen. Das Mädchen wird im Beisein ihrer Freundin, die zur Familie des Nachbarn gehört, vergewaltigt. Beide Kinder suchen Hilfe bei ihren Eltern, doch nur die Freundin wird von einem Arzt untersucht. Als der keine Verletzungen feststellt, stehen beide Kinder als Lügnerinnen dar. Trotzdem beginnt die Tochter eine Therapie. „Es geht ihr jetzt schon besser. Sie ist wieder wesentlich freier und zieht sich nicht mehr so zurück.“ Ihre Eltern glauben die Geschichte bis heute nicht.
Beide Sozialpädagoginnen sind sich einig, dass die kostenfreie Therapiemöglichkeit eine große Hilfe ist. Die Prävention könnte aber noch verstärkt werden. Das Team von Children in Crisis verbringt einen Tag in der Woche in den Schulklassen. Konfliktlösung ist eines der Themen. „Aber wir brauchen mehr Prävention gegen die Gangbildung, gegen Drogenmissbrauch. Damit der Kreislauf der Gewalt durchbrochen wird“, folgert Joyce Ngezana.
Depressionen, Suizidgefahr, Schizophrenie und andere psychische Auffälligkeiten sind die Folgen dieser Umgebung. Die Auslöser sind bei Jungen und Mädchen gleich. „Nur die Ausprägungen sind unterschiedlich. Während die Jungen eher auffallend reagieren, ziehen die Mädchen sich zurück“, sagt die Psychiaterin Hawkridge. „Doch gerade bei Jungen kommen Depressionen häufiger vor als bisher wahrgenommen. Sie sind eher dazu erzogen, solche Gefühle zu verstecken. Dabei sind sie ernsthaft krank, wenn sie zu uns kommen.“
Hawkridge verbindet mit ihrer Arbeit auch die Mission, gesellschaftlich etwas zu verändern: „Unsere Regierung gibt Millionen von Rand aus, um die Folgen von psychischen Problemen bei Erwachsenen einzudämmen. Wenn wir mit unserer Hilfe schon bei den Kindern beginnen, werden sie vielleicht nicht zu Erwachsenen, die Sex mit ihren Kindern haben, ihre Frauen schlagen und keinen Job behalten, weil sie es nicht schaffen, regelmäßig dorthin zu gehen. Ich garantiere nicht, dass das funktioniert, aber sie sollen es uns versuchen lassen.“
Informationen im Internet unter: www. children-for-tomorrow.de.