Internationale Finanzmärkte gelten gemeinhin als ein Terrain des Abstrakten, Börsengeschäfte nicht gerade als sinnlich erfahrbar. Dass dies nicht so sein muss, versucht derzeit die Künstlergruppe Derivart (1) aus Barcelona unter Beweis zu stellen. Jesus Rodriguez, Mar Canet und Daniel Beunza beschäftigen sich seit längerem mit der Verknüpfung von Kunst, Technologie und Finanzwelt.
Indem sie in Madrid die Ausstellung „Derivate, neue Finanzvisionen“ kuratierten, haben sie vielleicht ein neues Kunstgenre entdeckt: die Finanzkunst. Zum ersten Mal versammelt die Ausstellung in der Casa Encendida Werke, die sich mit dem Funktionieren von Finanzmärkten auseinandersetzen. „Versteckt hinter Begriffen wie Volatilität, Liquidität und Markteffizienz üben Händler, Broker und Analysten einen undurchsichtigen Einfluss über den Mann auf der Straße aus. Zeitgenössische Kunst hat bisher kaum die Rolle der Finanzmärkte in der Gesellschaft erkundet“, heißt es in der Beschreibung der Madrider Ausstellung. Die meisten der dort versammelten Arbeiten waren in den vergangenen Jahren bereits an anderer Stelle zu besichtigen und sind zum Teil mit Kunstpreisen ausgezeichnet worden.
Der Ausstellungsraum selbst wirkt äußerst nüchtern und ist mit Stellwänden in kleinere Abschnitte unterteilt worden, die Arbeitsplätze in einem Großraumbüro sein könnten. Die dominierenden Kunstformen sind Videoprojektionen, Netzkunst und Audioinstallationen. Die Arbeit der Wiener Gruppe Ubermorgen.com wird von mehreren Tageslichtprojektoren an die Wand geworden und hat so den Anschein sachlicher Vortragsfolien. Google Will Eat Itself (2) ist eine Anleitung, wie die Suchmaschine mit firmeneigenen Mitteln enteignet werden könnte. Durch die Platzierung von Google-Werbebannern, für die man je nach Anzahl der Klicks Geld bekommt, sollen wiederum Anteile an dem Suchmaschinen-Konzern erworben werden, bis die Firma ganz in den Besitz der Kritiker übergegangen ist. „Google Will Eat Itself“ reflektiert den vieldiskutierten Börsengang des Unternehmens ( „Google won’t be evil!“ (3)).
Lise Autogena und Joshua Portway haben 2001 das Black Shoals Stock Market Planetarium (4) geschaffen. Das ursprüngliche Planetarium wurde in der Tate Modern Gallery in London ausgestellt. An einer Kuppel steht jeder künstliche Stern für eine einzelne börsennotierte Firma. Die Helligkeit der Sterne ist variabel und in Echtzeit an die Kurse der jeweiligen Firmenaktien geknüpft. In der Madrider Ausstellung ist das Planetarium nun als Bildschirmpräsentation zu sehen. Mit dem Titel „Black Shoals“ (schwarze Untiefen) spielen Autogena und Portway auf die Black-Scholes-Formel (5) von 1973 an, die erste mathematische Formel zur exakten Bewertung von Finanzoptionen.
Das perfekte Spielzeug für Verschwörungstheoretiker ist They Rule (6) von Josh On. In einem Computerprogramm hat On Informationen über die Chefs der größten US-amerikanischen Konzerne und -Institutionen versammelt und sich die Tatsache zunutze gemacht, dass diese zumeist nicht nur in einem einzigen Firmenvorstand sitzen. So lässt sich mit „They rule“ in kürzester Zeit ein Netz von Verflechtungen der wichtigsten Konzerne knüpfen. Nutzer können ihre Firmennetze speichern und späteren Besuchern der Seite zugänglich machen. Da gibt es etwa Verknüpfungen von Harvard zu den bedeutendsten Pharmaunternehmen der Vereinigten Staaten oder von Halliburton zu wichtigen Medienkonzernen. Für den unbedarften Benutzer hat „They Rule“ den Nachteil, bereits ein gewisses Vorwissen über amerikanische Konzerne mitbringen zu müssen, um die Brisanz bestimmter Zusammenhänge zu verstehen. Die Informationen, die Josh On in „They Rule“ vereint hat, sind keine Geheimnisse: Das Programm basiert komplett auf öffentlich zugänglichen Daten, die die Konzerne und Institutionen per Gesetz bekannt geben müssen. Das gleiche Prinzip der digitalen „Karten“ hat Josh On bei einem späteren, nicht in der Ausstellung zu sehenden Werk benutzt, bei Exxonsecrets.org (7), das sich um den globalen Klimawandel und seine Verursacher dreht.
Eine einfache und verblüffende Parallele zieht Natalie Jeremijenko mit dem „Despondency Index“ (Verzweiflungsindex). In einer einzigen Grafik legt sie den Dow Jones Index und die Selbstmordraten aus San Francisco in den 90er Jahren übereinander. Ein einziger Blick auf die Grafik macht klar, dass die Zahlen nicht korrespondieren. Während der Dow Jones eine Epoche ökonomischen Wohlergehens für die größten Konzerne abbildet, geht die Selbstmordrate nicht zurück. Mit ihrer Verknüpfung nicht korrespondierender Daten will Jeremijenko auf das aufmerksam machen, was der ökonomische Index verschweigt.
Mar Canet ist überzeugt, dass die Ausstellung in Madrid nur die Anfänge einer im Entstehen begriffenen Kunst zeigt. „Wir hoffen, dass unsere Ausstellung weitere Künstler dazu anregt, Finanzkunst zu schaffen.“ Canet glaubt an eine Demokratisierung des Zugangs zu Börseninformationen, die es auch Künstlern ermöglichen würde, sich diesem Thema zu nähern. Die Gruppe Derivart arbeitet selbst an drei Kunstprojekten, die sich auf die Finanzwelt beziehen. So bauen sie mit „FinanceSketch“ einen Börsenhandelsraum nach, in dem sie statt Bildschirmen Zaubertafeln verwenden, ein Kinderspielzeug der 80er Jahre. „FinanceSketch“ soll voraussichtlich im kommenden Jahr in Madrid ausgestellt werden.
Links
(1) http://www.derivart.info/index.php?s=qsomos&lang=en (2) http://www.gwei.org/index.php (3) http://www.telepolis.de/r4/artikel/17/17338/1.html (4) http://www.blackshoals.net/ (5) http://de.wikipedia.org/wiki/Black-Scholes (6) http://www.theyrule.net/ (7) http://www.exxonsecrets.org/
Telepolis Artikel-URL: http://www.telepolis.de/r4/artikel/23/23366/1.html