Mit einem Schullehrer durch die südchinesische Provinz Guanxi
Auf der Hauptstraße der Kleinstadt Yangshuo fahren alle durcheinander: Lastfahrräder, Motorräder, Kleinbusse. Die Menschenmenge vor der Markthalle ist schier undurchdringlich. Etwas ruhiger wird es auf der Xi Jie, der Weststraße. Dort stehen zweistöckige Häuser, die mit Holzschnitzereien verziert sind. Sie bilden den Kern des Städtchens, das vor mehr als eintausendvierhundert Jahren entstand. Am Ende der Straße fließt der Li-Fluss. Auf der Promenade stehen Frauen und halten den Fremden Fotos von Booten entgegen, die man für Ausflüge mieten kann. Der Fluss fließt durch eine bizarre Karstlandschaft, die von spärlichem grün bedeckten Hügel erinnern an gekrümmte Zuckerhüte. Ihre Namen lauten „Die Liebenden“, in einem ewigen Kuss erstarrt, oder die „sieben Geister zu Pferde“. Die Berge regen nicht nur die Phantasie an, sie waren mit ihren weitverzweigten Höhlensystemen auch immer militärisches Rückzugsgebiet: hier kämpften lokale Warlords, Teilnehmer des Langen Marsches und chinesische Truppen gegen die japanische Besetzung.
Ein Mann in brauner Lederjacke geht wie beiläufig vorbei, grüßt auf Englisch und bleibt einige Meter weiter stehen, als ob er Mut sammeln müsste, uns anzusprechen. Long Zhen ist Lehrer und nutzt die Anwesenheit von Ausländern, um sein Englisch zu üben. Er hat den touristischen Boom der heute 300000 Einwohner zählenden Stadt von klein auf miterlebt „1979 machten wir mit der Schulklasse einen Ausflug nach Yangshuo, um unsere ersten Ausländer anzugucken. Ich fand sie damals unglaublich hässlich, mit ihren großen Nasen und ihren hellen Haaren“, erzählt er. Yangshuo liegt 65 km von Guilin entfernt, in der autonomen Region Guanxi. 1978 wurde die Region für den ausländischen Tourismus geöffnet. Noch immer beherbergt die Stadt Guilin die organisierten Reisegruppen, während die kleinen Hostels und Pensionen in Yangshuo eher auf Individualreisende eingestellt sind. Wer will, kann sich hier geführten Fahrradausflügen anschließen, wer einfach nur die Natur genießen will, sich ganz alleine auf den Drahtesel schwingen und über die umliegenden Dörfer radeln. Obwohl es kaum jemanden gibt, der noch nie eine „Langnase“ gesehen hat, findet man in den Dörfern erhebliche Beachtung. Schon die kleinsten winken den vorbeiradelnden Touristen zu und rufen kichernd „Hello“. „Manche Leute hier nennen die Ausländer einfach nur Hellos. Sie erzählen den Kindern Schauergeschichten, wie: „wenn du nicht artig bist, kommt der Hello, dich zu holen“, erzählt Long Zhen. Eigentlich schwer vorzustellen, dass die kichernden Kinder Angst vor uns haben.
Die Kühle des Abends vertreibt uns von unserem Platz am Fluss. In einem nahen Café bestellen wir Ingwertee. In der Tasse schwimmt jeweils eine ganze Ingwerknolle, der Tee ist stark und süß. Wärme breitet sich im Körper aus. „So hat der erste Tee bei meinen Schwiegereltern geschmeckt“, erzählt Long Zhen. „Das war, als ich um die Hand meiner zukünftigen Frau angehalten hatte. Ich wurde zu ihrer Familie eingeladen. Wir aßen zusammen und anschließend servierten sie einen Ingwertee. Das war die Art, wie man die Entscheidung verkündete: War der Tee stark und süß, hieß es, dass sie dich als Schwiegersohn akzeptierten. War er hingegen wässrig und ungesüßt, war das ein Nein, und es brauchte kein weiteres Wort darüber verloren zu werden.“ Heute lebt Long Zhen von seiner Frau getrennt. Nicht, weil sie sich nicht mehr lieben würden, sondern weil ihre ökonomische Lage sie dazu zwingt. Long Zhen verdient als Lehrer 700 Yuan im Monat – etwa 80 Euro. Von dem Geld kann die Familie nicht leben, geschweige denn, das Schulgeld für den Sohn bezahlen. Seit drei Jahren arbeitet seine Frau also im 300 Kilometer entfernten Guangzhou, wo sie als Näherin in einer Fabrik beschäftigt ist. Die Familie sieht sich einmal im Jahr, wenn die Fabriken zum chinesischen Neujahrsfest schließen, sonst gibt es maximal einen freien Tag in der Woche, für den sich die Reise nicht lohnen würde
Am folgenden Tag bringt uns Long Zhen nach Jiu Xian, den Ort, an dem er aufgewachsen ist. Wir fahren mit Leihfahrrädern ein Stück die Hauptstraße Richtung Guilin entlang, dann biegen wir in eine kleinere Straße zwischen abgeernteten Reisfeldern ein, folgen schmalen verwinkelten Gassen zwischen den betagten Lehmhäusern von Baisha. „Hier war früher das Kino“, sagt Long Zhen. „Wir kamen jeden Abend. Wenn ein Film eine Woche lang lief, sahen wir eben siebenmal den gleichen Film.“ Im Zeitalter der DVD-Spieler ist das Dorfkino verwaist. Wir radeln weiter bis zum Yulong-Fluss, zu deutsch Drachen-Fluss. Neben einer Brücke aus Natursteinen, die ohne jeglichen Zement zusammenhalten, erledigen Frauen die Wäsche am Flussufer. Schmale Flöße aus zusammengebundenen und über dem Feuer gebogenen Bambusstämmen warten auf Fahrgäste. Wir wechseln das Verkehrsmittel und lassen uns einige Kilometer flussabwärts staken. An einigen Stellen laufen wir auf Grund, da die letzten Monate sehr trocken waren. Zur Linken und Rechten ragen die typischen Karstkegel auf. Auf dem Fluss begegnen wir auf ihren Flößen stehenden Fischern. In der Hand haben sie jeweils eine lange Stange, die an eine Autobatterie angeschlossen ist. Mit einem Stromschlag lähmen sie die Fische und holen sie dann schnell mit einem Kescher aus dem Wasser. In der Nähe von Jiu Xian warten bereits unsere Fahrräder am Ufer. Als wir im Dorf ankommen, ist die chinesische Mittagszeit bereits überschritten. Verwandte von Long Zhen hocken auf Holzschemeln in der Sonne und spielen Karten. Grüppchen von Spielerinnen und Spielern gehören in China allerorten zur Szenerie. Long Zhen holt frisches Gemüse aus dem Garten seines Vaters und kocht für uns. Wir dürfen ihm dabei nicht zur Hand gehen, denn es gehört sich für den Gastgeber nicht, die Gäste arbeiten zu lassen. Long Zhen redet von Zeiten des Hungers auf dem Dorf. „Als Kinder haben wir ständig um Essen gewettet. Einmal hatten wir so großen Hunger, dass wir ein Huhn geklaut haben und über dem Feuer gebraten. Am nächsten Tag fragte der Nachbar, ob jemand sein Huhn gesehen hätte, und wir antworteten, es sei sicher in den Fluss gefallen und ertrunken.“ Zwar starb in den 70er Jahren, als Long Zhen aufwuchs, niemand mehr an Hunger wie in der Dekade zuvor, die Landwirtschaft musste sich aber noch von der Politik des „Großen Sprung nach vorn“ erholen. Ende der 50er waren die Bauern zu Volkskommunen zusammengefasst worden, die von der Zentralregierung u.a. verpflichtet wurden, eine bestimmte Menge an Stahl zu produzieren. In der Folge wurde die Landwirtschaft vernachlässigt, und es kam zu verheerenden Hungersnöten. Nach Maos Tod 1978 wurden die Volkskommunen schrittweise wieder aufgelöst.
Von der Umwälzung der Eigentumsverhältnisse kündet auch das ehemalige Gutshaus aus sandfarbenen Ziegeln mit den geschwungenen Dachgiebeln. Die schattigen Höfe und Zimmer im Inneren sind zum großen Teil ausgestorben, manche Räumen beherbergen Hühner und Schweine. Das Gut mitsamt seinen Ländereien war nach 1949 enteignet und an die Landarbeiterfamilien verteilt worden. Anfangs hatte so jede Familie ein Zimmer im herrschaftlichen Haus bewohnt, doch allmählich bauten die Bauern ihre eigenen Häuser und das Gutsgebäude verwaiste. Vor den Toren erzählt eine Stele, wie ein gewisser Li als Beamter an den kaiserlichen Hof gerufen wurde. Auf zwei Leinen trocknen nebeneinander Kleidungsstücke und selbstgemachte Wurst. Während wir über die Dämme zwischen den Reisfeldern zurückradeln, weist uns Long Zhen auf einen höheren Erdwall hin: Dort endete in der Qin-Dynastie, um das Jahr zweihundert vor Christus, das chinesische Kaiserreich. Still liegt der Yulong-Fluss in der Dämmerung. Doch bald schon könnte die Gegend aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen. Die Regierung plant, die Region weiter für den Tourismus auszubauen.