Seit den Privatisierungen haben sich die Arbeitsbedingungen in China extrem verschlechtert
Robin Munro leitet in Hongkong das China Labour Bulletin (CLB), das über Arbeitsbedingungen in der Volksrepublik China recherchiert und Betroffenen Rechtshilfe anbietet. Über 14-Stunden-Schichten, mysteriöse Silikose-Erkrankungen und fehlende Normenkontrolle – aber auch über das steigende Selbstbewusstsein der chinesischen Arbeiter sprach Jutta Blume für ND mit ihm.
ND: Die VR China ist noch immer relativ abgeschottet. Woher beziehen Sie eigentlich Ihre Informationen?
Munro: Unsere Internetseiten sind in China gesperrt, trotzdem kontaktieren uns viele über das Netz. Wir verschicken unsere Bulletins auch per E-Mail. CLB-Gründer Han Dongfang arbeitet für den (von der USA-Regierung finanzierten, d. Red) Sender „Radio Free Asia“. Er ist dort für Sendungen zum Thema Arbeit verantwortlich, die man auf Kurzwelle in der VR China empfangen kann. Millionen hören das. Am Ende wird unsere Telefonnummer durchgesagt. So erfahren wir, was in den Fabriken passiert.
Seit 2003 haben Sie ein „Interventionsprogramm“. Was ist das?
Wir hatten genug davon, nur zu berichten, wir wollten auch eingreifen. Nehmen wir den Fall der Silikose-Erkrankten. Betroffen sind vor allem Angestellte der Schmuckindustrie in der Provinz Guangdong in Südchina. Dort werden 70 Prozent der Halbedelsteine hergestellt, die weltweit im Handel sind. Die meisten Investoren kommen aus Hongkong, lassen aber wegen der billigen Arbeitskraft in China produzieren. Arbeiter sitzen 14 Stunden lang in engen Räumen an Schleifmaschinen. Dabei wird eine Menge Siliziumstaub freigesetzt, der extrem schädlich ist, weil er sich in der Lunge festsetzt. Wer an Silikose erkrankt und sich keine teure medizinische Behandlung leisten kann, stirbt schnell. Das CLB verfolgt derzeit etwa hundert Silikose-Fälle in Guangdong. Wir ermutigen die Arbeiter zu klagen. Im letzten halben Jahr haben sechs oder sieben Arbeiter ihr Verfahren gewonnen. Wir konnten inzwischen über 2 Millionen Yuan (etwa 200 000 Euro) einklagen. Wir drängen zunächst stets auf außergerichtliche Einigungen, aber normalerweise fühlen sich die Arbeitgeber so sicher, dass sie nicht verhandeln. Sie lassen die Angestellten lieber einschüchtern.
Wäre es nicht sinnvoller, für Sicherheitsstandards einzutreten, um Erkrankungen zu vermeiden?
Es mangelt ja nicht an Gesetzen. Das Problem ist die Praxis. Ihre Einhaltung wird weder überwacht noch durchgesetzt. Fabrikbesitzer handeln straffrei. Deswegen halten wir es für so wichtig, diese Fälle vor Gericht zu bringen. Wir können es für die Fabrikbesitzer teuer machen, Gesundheit und Sicherheit zu ignorieren. Und wenn die Arbeiter sich auf die Gesetze berufen, ist es für die Gerichte schwer, sie nicht zu unterstützen.
Haben sich die Arbeitsbedingungen nach der Privatisierungswelle verändert?
China war nie ein Land mit guten Arbeitsbedingungen, aber vor der Privatisierung kümmerten sich die Betriebe um ihre Arbeiter: billige Unterkunft, kostenlose Gesundheitsversorgung, Schulen für die Kinder. Die staatliche Gewerkschaft war präsent, wenn auch nicht sehr aktiv. Heute gibt es hauptsächlich private Fabriken, in denen Gewerkschaften verboten sind. Die Beschäftigten im Privatsektor sind meistens Wanderarbeiter. Das chinesische Wirtschaftswunder basiert auf billiger, nicht organisierter Arbeitskraft. Typisch in der Schuh-, Textil- und Spielzeugindustrie sind Arbeitstage von 12 bis 15 Stunden, sieben Tage die Woche, bei seltenen arbeitsfreien Tagen. Die Arbeiter wohnen oft in Sälen innerhalb der Fabrikkomplexe, der Alltag folgt einer strengen Disziplin. Große Branchen wie die Schuh- und Textilindustrie beschäftigen hauptsächlich junge Frauen. Sie fangen mit 16 Jahren an – mit 25 sind sie dann zu alt. Oft sind sie tatsächlich in diesem Alter schon erschöpft und krank.
Aber die Arbeiter beginnen, sich zu wehren. Immer öfter hört man auch im Ausland von Protesten. Protesten …
Die lassen sich das lange gefallen – um dann plötzlich die Beherrschung zu verlieren. Auslöser kann etwa sein, vom Chef beschimpft worden zu sein. Auch gibt es Organisationen – in Guanzhou und Shenzhen, – die etwa Rechtsberatung anbieten.
Die Regierung zeigt sich besorgt über die Proteste. Wird es mehr Repression geben?
Seit 1989 wurde jedenfalls der Polizeiapparat enorm ausgebaut. Sein repressives Potenzial ist groß.
Wie hat sich die Lage nach dem jüngsten Regierungswechsel entwickelt? Gibt es Bewegung in diesen Fragen?
Die einzige Strategie der vorherigen Regierung war möglichst schnelles Wirtschaftswachstum um fast jeden Preis, während soziale Gerechtigkeit komplett vernachlässigt wurde. Inzwischen gibt es eine große Kluft zwischen Arm und Reich. Selbst Gesundheits- und Bildungssystem wurden privatisiert. Seit Hu Jintao und Wen Jiabao die Regierung übernommen haben, reden sie davon, soziale Gerechtigkeit zu fördern. Sie sind sich der Probleme bewusst. Aber es folgen, bisher zumindest, keine Taten.