Verscharrt, aber nicht vergesen (Neues Deutschland, Aug. 2012)

»Meine Mutter bekam einen Riesenschreck, als sie hörte, was ich vorhabe. Sie sagte: Stell dir vor, es kommt ein neuer Krieg und sie werden dich töten.« Doch Hector Cada Navarro hatte sich etwas in den Kopf gesetzt. Er hatte bereits einige Jahre mit seinem Vorhaben gewartet, denn er traute sich nicht, solange seine Großmutter noch lebte, mit seinen Recherchen zu beginnen. Doch jetzt steht Hector auf dem Friedhof von Burriana in der Nähe der ostspanischen Stadt Valencia. Ein stämmiger junger Mann, lange Koteletten, Sonnenbrille. Auf seinem schwarzen T-Shirt steht in rot »Surfing Lungs. Full Metal Jacket«. Er wohnt in Castellón, ist Grafiker. »Es war ein Tag nach dem Tod meiner Großmutter, als ich meine Suche begann«, sagt er und zeichnet mit dem Finger die Umrisse des Massengrabs nach, das sich im hinteren Teil des Friedhofs befindet.

Hier am Rande des Städtchens Burriana, direkt vor den Mauern des Friedhofs wurde vor über 70 Jahren sein Großvater Ismael Navarro ermordet. Es war 1939 kurz nach Ende des Spanischen Bürgerkrieges. Franco-Anhänger ermordeten massenhaft Kommunisten, Anarchisten und deren Sympathisanten. Ismail Navarro wurde über die Friedhofsmauer geworfen und zusammen mit elf anderen in einem Massengrab verscharrt. Hectors Großmutter konnte erst zehn Jahre später erstreiten, dass ihr Mann exhumiert wird. Er wurde am Gebiss identifiziert und ordentlich bestattet. Seitdem redete Hectors Großmutter nie wieder darüber, was damals passiert war. Bis zu ihrem Tod, der für Hector den Anlass seiner Suche bildete. »Sie war traumatisiert«, sagt Hector, »stell dir eine Frau von 22 Jahren vor. Sie hatte einen sechsjährigen Sohn und lebte als Witwe eines Linken in einer besiegten Stadt. Sie zog es vor, nicht mehr darüber zu reden.«

Offizielle Aufarbeitung der Taten unmöglich

Das Schweigen ist durchaus eine Konstante in der Auseinandersetzung der spanischen Gesellschaft mit Bürgerkrieg, Faschismus und Diktatur. Ein Schweigen, das quasi aus einem Deal resultiert, den der spanische König und die Faschisten 1977 nach Francos Tod schlossen. Die Faschisten akzeptierten damals einen Übergang zur Demokratie unter der Vorgabe einer Amnestie sämtlicher Täter der Falangisten. Allerdings: Auch andere gesellschaftliche Gruppen waren damals mit einer Amnestie für die Täter des Bürgerkriegs und der Diktatur einverstanden. Eine gerichtliche Bestrafung ist seitdem ausgeschlossen. Ja, noch nicht einmal eine Untersuchung der Tathergänge ist möglich. Geschichtsaufarbeitung findet privat statt. Eine Situation, die sich erst in den vergangenen Jahren – mit der Regierung Zapatero – etwas aufweichte. Doch als Nationalrichter Baltasar Garzón 2009 versuchte, die Frage der Amnestie zu prüfen, Massengräber öffnen und Verantwortlichen den Prozess machen wollte, begannen Konservative an seinem Stuhl zu sägen und konnten schließlich dafür sorgen, dass er suspendiert wurde.

Der Ausgangspunkt von Hectors Suche war die Frage, ob sein Großvater eine Straftat, eine »Bluttat«, wie er es formuliert, begangen hat oder unschuldig hingerichtet wurde. Er wendet sich an eine Gruppe, die sich mit Geschichtsaufarbeitung beschäftigt. Diese verweist ihn weiter an eine Niederlassung des Heeres in Castellón. Dort trifft er auf einen Offizier, der verantwortlich ist für Geschichtsfragen und der sich sehr offen zeigt.

»Ich habe in diesem Raum gesessen und alles abgeschrieben. Ich sah das Todesurteil meines Opas und was mich überraschte war, dass sich darauf seine Unterschrift befand. Er hat sein eigenes Todesurteil unterzeichnet. Das zu sehen war traurig und bewegend. In den Akten stand, dass mein Großvater einen Lastwagen mit Gefangenen nach Castellón fahren sollte. Auf dem Weg wurde ihm jedoch befohlen, in eine Seitenstraße abzubiegen, was er tat. Die Soldaten ließen die Gefangenen absteigen und erschossen sie. Mein Großvater wollte dem nicht zusehen und entfernte sich. Grund genug, ihm eine Anklage wegen Mord, linker Ideen und antikatholischer Einstellungen anzudichten.«

Hector fand schließlich die Namen und Adressen derjenigen heraus, die seinen Großvater umgebracht hatten. Sie waren allesamt tot, doch die Ehefrauen lebten noch. Er beschloss, sie nicht aufzusuchen. »Was soll das, eine alte Frau damit zu belästigen, das ergibt keinen Sinn«, sagt er. Doch er macht etwas anderes. Er erstellt eine Webseite, um seine Suche zu dokumentieren. Die Seite heißt: www.fusilados.org. Auf der Seite dokumentiert er die Vorgänge im November 1939 und beschreibt seine Suche. Seitdem erhält er viele Anfragen von meist jungen Spanierinnen und Spaniern, die sich auch auf die Suche nach der Geschichte ihrer Großeltern begeben wollen. Er hilft ihnen gerne. »Nein, die Suche hat nichts mit Politik zu tun«, sagt Hector, es sei für ihn eine ganz persönliche Angelegenheit gewesen.

Suche nach Toten in den Massengräbern

Für Carmen Coch gehört die Aufarbeitung der Franco-Geschichte zum Geschäft. Zusammen mit ihren KollegInnen von Paleolab hat sie einen großen Sonnenschutz über einen Teil des Friedhofs von Albalat dels Tarongers gespannt. Seit einer Woche schon suchen sie nach den Überresten von Ermordeten, die hier in einem Massengrab liegen sollen. Paleolab ist eine Firma, die sich auf das Öffnen von Massengräbern spezialisiert hat. Den Auftrag zur Exhumierung haben sie von Angehörigen bekommen, die endlich die Gebeine ihrer Eltern ordentlich bestatten wollten. Lange Verhandlungen mit den Dorfautoritäten liegen hinter ihnen. Viele wollen noch immer lieber die Geschichte ruhen lassen, als schmerzhafte Gräben aufzureißen. Nun müssen sie vorsichtig vorgehen – es darf nicht mehr umgegraben werden als unbedingt nötig, war die Bedingung. Doch nach einer Woche sind sie frustriert: Sie haben viele Skelette gefunden, aber das gesuchte war noch nicht dabei. »Sie haben die Toten hier übereinander bestattet«, sagt Carmen Coch, »die ältesten liegen unten. Doch die Skelette kamen durcheinander, man findet ständig einzelne Knochen, die wir nicht zuordnen können.«

Carmen Coch ist eine junge Frau. Sie hat ihre blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Schweißperlen stehen auf ihrer Stirn. Zentimeter für Zentimeter durchkämmt sie zusammen mit ihrem Team den Boden, jeder Knochen wird erfasst und in Plastiktüten verpackt. Nichts darf durcheinandergeraten.

Auch Ausiás Llorenç Palau und sein Vater Alfons haben sich auf die Suche nach der Geschichte begeben. Der Urgroßvater von Ausiás – Alfons‘ Opa – war Gründer und erster Direktor des Radios Valencia. Seine Name: Enrique Palau Salvador. Valencia war Hauptstadt der Spanischen Republik. Von hier aus und vor allem durch Radio Valencia wurden die offiziellen Nachrichten verbreitet. Francos Truppen installierten ihren Radiosender auf der gleichen Frequenz. Sie beabsichtigten, den Sender der Republik zu sabotieren. Enrique Palau wurde dann aber vorgeworfen, dass er eine Sendung der Falangisten gestört habe. »Mein Urgroßvater war Humanist und Mitglied der sozialistischen Partei. Er hat immer für die Demokratie gekämpft«, sagt Ausiás. Sein Urgroßvater kam ins Gefängnis, wurde krank und starb 1943. »Nachdem mein Urgroßvater gestorben war, nahmen sie seiner Familie alles weg. Möbel, Schreibmaschine, Klavier«, berichtet Ausiás.

Jahre später traf seinen Vater Alfons Palau fast der Schlag. Er hielt eine Festschrift des Radio Valencia, das nun zu Cadena Ser gehört, in den Händen. Doch der Name seines Großvaters tauchte nicht auf – auf keiner Seite. Er war stinksauer und begann zu recherchieren. Er wandte sich an die Offiziellen des Radios, schaltete Bekannte und Freunde in der Politik ein.

Schließlich organisierte er eine Festveranstaltung für seinen Großvater. Die ganze Familie luden sie ein. Auch den heutigen Direktor von Cadena Ser hatten sie eingeladen. Auch er kam. Genauso wie sozialistische Parteifunktionäre und Vertreter der lokalen Politik. Doch trotz dieses Erfolgs sind die Wunden nicht verheilt. »Es muss eine neue Festschrift geben, wo der Name von Enrique Palao Salvador erwähnt wird und er so rehabilitiert wird«, sagt Alfons. Doch bisher sperrt sich der Radiosender gegen dieses Anliegen.

In der Mitte der zweiten Woche hat das Team von Paleolab endlich Erfolg. In langen Diskussionen mit den Verantwortlichen des kleinen Ortes Albalat dels Tarongers haben sie erreichen können, dass sie noch an einer anderen Stelle graben durften. Vermittelt hat der Pfarrer des Ortes, der um jeden Preis Aufsehen vermeiden wollte. Sie haben die Überreste des Gesuchten gefunden, exhumiert, sorgfältig in Tüten verpackt und der Familie übergeben. Diese kann nun ihren Vater, Großvater oder Urgroßvater ordentlich bestatten. Nur langsam heilen so die Wunden der Vergangenheit. Die Hoffnung aber, dass irgendwann auch ein Täter verurteilt werden kann, bleibt wohl bei vielen der Angehörigen noch lange unerfüllt.