Der Drang nach Organisierung (nd, 2014)

Die radikale Linke sieht eine Notwendigkeit, sich zu organisieren. Das Streben nach Verbindlichkeit und Kontinuität, aber vor allem die Bereitschaft, dafür die eigene Gruppenidentität aufzugeben, sind etwas Neues im deutschsprachigen Raum. Die aktuellen Versuche sollen dazu beitragen, dass die Linke hierzulande eine hegemoniale Kraft wird.

 

Von Tim Zülch

Theorie und Praxis im Politischen liegen selten so weit auseinander, wie Anspruch und Wirklichkeit der Bildung gemeinsamer Kräfte in den linken Bewegungen. Während der Anspruch einer wie auch immer gearteten Einheitsfront gegen die Zumutungen des Kapitals Jahre und Jahrzehnte vor sich her getragen wurde und noch immer wird, zeigt sich in der Realität oft die maximal mögliche Zersplitterung: ÖkologInnen, Autonome, Antideutsche, KommunistInnen, AntirassistInnen.

Zugegeben, hin und wieder kam es zu strategischen Allianzen. Auch Heiligendamm, Castor Schottern oder die Blockupy-Proteste in Frankfurt waren solch strategische Allianzen und Aktionen, die unter dem Schirm ihrer jeweiligen konkreten Ziele durchaus wirkungsvolle Proteste mobilisieren konnten. Doch waren diese Gemeinsamkeiten nicht oft mehr als ein kleinster gemeinsamer politischer Nenner? Zumindest bei oberflächlicher Betrachtung spricht vieles dafür. So traf man sich in Heiligendamm 2007 unter dem Motto »Block G8« oder 2012 bei den Blockupy-Aktionstagen in Frankfurt unter dem Slogan »Besetzen, Blockieren, Demonstrieren«. Auch das Blockupy-Motto 2013 »Widerstand im Herzen des europäischen Krisenregimes« lässt – das muss wohl zugegeben werden – wenig konkrete Rückschlüsse auf inhaltliche Fragen, Gemeinsamkeiten oder Differenzen zu.

Darf’s ein bisschen mehr sein?

Proteste alleine reichen nicht, schreiben die Sozialistische Initiative Berlin (SIB) und die Gruppe Arbeitermacht (GAM) in einem Manifest für eine Neue antikapitalistische Organisation (NaO), das Mitte Dezember in Berlin veröffentlicht wurde. Seit vier Jahren diskutieren im Rahmen des NaO-Prozesses mehrere marxistisch-kommunistische Gruppen die Gründung einer »glaubhaften gesellschaftlichen Alternative, die den Widerstand bündeln kann«, um damit die Zersplitterung der antikapitalistischen und revolutionären Kräfte in Deutschland zu überwinden.

Nach Ansicht der Autoren stehen wir »am Beginn einer neuen Ära im Kampf um die Neuaufteilung der Welt«, die es notwendig mache, sich »an Diskussionen und Initiativen zur Schaffung einer kämpferischen und demokratischen Internationale zu beteiligen«. Im NaO-Manifest, das auf der Webseite der Gruppe zu finden ist, wird der »Ausbruch aus dem Zirkelwesen hin zu einer wahrnehmbaren, radikalen linken Kraft« angemahnt. Dabei dürften sich KommunistInnen nicht aktuellen politischen Strömungen verschließen. Ökobewegung und auch Frauenbewegung nehmen einen relativ großen Teil des Manifests ein.

Aktivistisch ins neue Jahrtausend

Auf einer Berliner Veranstaltung Mitte Januar im autonomen Zentrum Mehringhof, zu der immerhin rund 100 Personen erschienen sind, zeigt sich allerdings etwas anderes als der große Aufbruch. Es geht weniger um die Betonung des Gemeinsamen als um Abgrenzung. Das Verhältnis zur Linkspartei erregt die Gemüter. Während Martin Suchanek mit schwarzem Rollkragenpullover und Brille betont, »Linke im Parlament sind wichtig, um aus der Zersplitterung zu kommen«, sieht Michael Prütz aus dem Publikum die Zukunft der Linkspartei schon vor seinem inneren Auge. »Der Weg der Linkspartei ist entschieden. Sie wird in eine Rot-Rot-Grüne Koalition gehen und Klassenverrat begehen«, meint er. Bereits jetzt distanzieren sich einzelne Gruppen vom Prozess. Er sei »überhastet und basiere auf wackligen theoretischen Grundlagen«. Auch bestehe die Gefahr, dass der Prozess zu einer Suche nach dem alles erklärenden Programm, an dem das Böse der Welt abprallen solle, verkomme, kritisiert ein Teilnehmer.

Ebenfalls seit 2010 befindet sich die Interventionistische Linke (IL) in einem Prozess des Zusammenschlusses. Während am NaO-Prozess beteiligte Gruppen schreiben, »Proteste alleine reichen nicht«, würde die IL wohl eher formulieren »Programme alleine reichen nicht«. Seit 1999 existiert das aktivistisch orientierte Netzwerk. 2007 bei den Protesten gegen die G8-Tagung in Heiligendamm organisierte die IL die Block-G8-Kampagne und beteiligte sich an »Castor Schottern« im Herbst 2011 und den jährlichen Protesten gegen den Naziaufmarsch in Dresden.

Basierend auf der Erfahrung, dass vieles mit vielem zusammenhängt und dass isolierte Kämpfe nicht zu gewinnen sind, loten momentan die beteiligten Gruppen in einer Organisationsdebatte aus, wie die Handlungsfähigkeit und Sichtbarkeit erhöht, die strategischen Debatten verbreitert und intensiviert und mehr AktivistInnen eine aktive Teilnahme ermöglicht werden können. In der IL sind Gruppen wie Antifaschistische Linke Berlin, I Furiosi – die Wütenden aus Düsseldorf, die Berliner Gruppe Fels, die Radikale Linke Nürnberg oder die Redaktion der Zeitschrift »analyse & kritik« vertreten. Diese Gruppen sollen – bei Erfolg – in einer gemeinsamen Organisation aufgehen.

Die Frage nach der Notwendigkeit von Organisierung der radikalen Linken war in der postautonomen Bewegung und Gruppen wie beispielsweise Fels (Für eine linke Strömung), seit ihrer Gründung virulent. In bewusster Abgrenzung gegen autonome Szenestrukturen mit informellen Hierarchien setzte Fels die Einsicht, dass gegen die Individualisierung des Kapitalismus nur weiteres strukturiertes Zusammengehen hilft. Immer verbunden damit, dass auf gemeinsamen Aktionen politisches Vertrauen untereinander wachsen kann, das – als Nebeneffekt – auch Strukturdebatten erleichtert. Die nun zu schaffende Struktur wird als netzförmiges Gebilde ohne Vorbild beschrieben. »Wir wollen etwas ganz neues erfinden, dafür gibt es keine Vorbilder«, beschreibt eine Aktivistin den Prozess.

Gegenmacht, Zorn und Liebe

Die Idee einer übergreifenden Organisierung von Linken ist also sicher nicht neu. Dennoch scheint ein akutes Bedürfnis nach einer verbindlicheren außerparlamentarischen Organisation, die Gruppengrenzen überwindet und einen mächtigen Gegenpol zu aktuellen Zumutungen des Systems bildet, zu existieren. Die Antwort auf die Frage, warum gerade jetzt dieses Bedürfnis mehr als sonst besteht, bleibt hingegen offen. »Wann, wenn nicht jetzt?«, fragt Filmemacher Ken Loach, der gerade in Großbritannien dabei ist, eine Partei links von Labour zu gründen. Vielleicht reicht das als Antwort. Spannender ist auch eher die Frage, wie sich diese neuen Gruppen in bestehende oder kommende Kämpfe involvieren.

»Unsere Wut ist die Wut der Verweigerung, der unterdrückten Kreativität, der Empörung … Wir weigern uns. Unser brüllendes Nein findet Widerhall in der Welt«, schreibt John Holloway 2012 unter der Überschrift Verzweiflung und Hoffnung. Diese Negation des Bestehenden konstruktiv in eine kontinuierliche Perspektive zu verwandeln, wird die Herausforderung sein für Prozesse, wie sie die Interventionistische Linke oder Neue antikapitalistische Organisation angestoßen haben. Doch wo ist dieses Nein zu finden? Durchaus: Auf Straßen und Plätzen, ob in Madrid beim 15M auf dem Puerta del Sol, auf dem Tahrir-Platz in Kairo, dem Gezi-Park in Istanbul ist es vernehmbar, doch wo sind die Orte in Deutschland, wo sich das vielfach vorhandene latente Unbehagen mit dem Existierenden in Protest und Kampf verwandelt? Steigenden Mieten, Armut trotz Arbeit, Kämpfe für Vergesellschaftung von beispielsweise Energiebetrieben aber auch die Abschottung Europas könnten solche Bereiche sein.

Doch viel wichtiger als politisch-strategische Felder auf dem Reißbrett festzustecken ist, das »brüllende Nein« wahrzunehmen, Kontakt mit den dort Kämpfenden aufzunehmen und Handelnde zu werden mit dem Ziel, dem Protest eine kontinuierliche Perspektive zu geben. Das sind Aufgaben linksradikaler Organisationen.

Was Michael Hardt in einem Interview in der Zeitschrift »arranca!« zu kommenden Herausforderungen sagt, trifft es ziemlich gut. Er meint: »Wir können im Kleinen (bei lokalen Protesten und Camps, Anm. der Autor) sehen, welche Art von Welt wir in der Zukunft anstreben.« Die zentrale Herausforderung sei, »die gemachten Erfahrungen auch über die Grenzen des Camps hinaus zu tragen und dabei weder die der Bewegung momentan eigene horizontale Struktur, noch die Forderungen nach echter Demokratie aufzugeben. Was hier auf dem Spiel steht, ist die Herausforderung als demokratisch organisierte und aus einer Vielzahl von Subjektivitäten zusammengesetzte Bewegung, eine langfristige und politisch effektive Form zu entwickeln.«